Von Erpressungen und lindengrünen Keilhosen

Illustration: Rebekka Heeb

Mein Vater erpresste mich. Zumindest als ich ein kleiner Bub war. «Alle Noten eins im Zeugnis – und du bekommst den Hund!»

Oder: «Wenn du das Sauerkraut nicht aufisst, schneits morgen.» Und natürlich: «BÖSEN BUBEN VERSTECKT DER OSTERHASE NICHTS!» ICH MEINE DIESE ART VON ERPRESSUNGEN!

Natürlich bin ich auch später immer wieder erpresst worden. Andersrum. Es scheint, dass ein Leben zu 88 Prozent aus Erpressungen besteht: «Gib meiner Partei die Stimme – und ich setze mich für dich ein.» (Was, wenn nicht? – Da kannst du dich gleich über Bord werfen!)

Dann: «Wenn du nicht nett zu mir bist, muss ich so etwas als politisch unkorrekt melden.»

Oder bei der Krankenversicherung: «Wenn du den Kassenbeitrag nicht aufstockst, kannst du dich gerne beim Heimwerker operieren lassen…»

Später in der ersten amourösen Phase: «Wenn du mir einen Kuchen bäckst, hab ich dich lieb!»

Mein Vater hatte es damals besonders mit Sport-Erpressungen. Er sah, dass sein Bub ein Jammerlappen war. Das nervte ihn. ER WOLLTE EINEN HELDEN AN SEINER SEITE. UND DAS WEICHEI ZUM SUPERMANN HARTKOCHEN.

Ihr kennt alle das DRAMATISCHE ENDE: nada … nada … nada. Und eine schreckliche Tucke, welche am Sporttag die 100 Meter mit gestrasster Sonnenbrille, scharlachroten Hotpants und Chanel 5 absolvierte. Natürlich im gemäch­lichen Spazierschritt – und mit hingehauchten Kusshändchen nach links und rechts.

«NOCH EIN MAL – UND DU FLIEGST HOCHKANTIG VON DER SCHULE», erpresste die Lehrer­schaft den Zögling.

Ich flog dann ohnehin. Nur weil ich auf einen ihrer Lehrer geflogen war. Immer wenn ich in Adelboden bin und ins Dorf spaziere, mache ich an diesem steilen Hang, der vom Bodenweg runter zum Engstligenbach führt, halt.

OKAY. IN ERSTER LINIE UM ZU VERSCHNAUFEN. Und so Innocents Lamento anhören zu müssen: «Paff dir die Lunge noch mehr mit Teer voll – wenn du so weitermachst, kannst du dich auch direkt in den Friedhof rollen…»

Innocent ist 81. Er hört mies. Rennt aber noch wie ein Rehlein. Und ich erpresse ihn zurück: «NOCH EIN WORT – UND ICH VERWANDLE DEINE BEIDEN HÖRVERSTÄRKER IN EIN FASNACHTSREQUISIT!»

So schweigen wir einander gereizt an. Und denken uns weitere nette Erpressungen aus. Ich betrachte also melancholisch den Hang – ein Hang, der steiler ist als eine Sprungschanzen-Abfahrt. Und ich muss an meinen Vater denken, der mich da runterjagte – wie einen Hund, dem man einen Holzbengel wirft.

Der Holzbengel war hier «ein Coupe Wildstrubel im Schmid». Der Hund war ich. Und der gute Papi sah es als spielerischen Versuch, die kleine Pflaume neben sich aus ihrer lila Reserve zu locken. «HANS – HÖR AUF MIT DEM MIST!», protestierte meine liebe Mutter, die mir auch die lindengrünlichen Keilhosen gestattet hatte. Es war ein Mädchen-Outfit. Sie hat dann einfach noch pro Forma einen Schlitz reingeschneidert. Total unnötig. Denn ich bin schon damals auf der Toilette beim Pinkeln gesessen, ohne dass mich die emanzipierte Frauenwelt mit aufgeregten «Sonst Pimmel weg!»-Kastrierungsgesten erpressen musste.

Wir standen also in heisser Skiausrüstung vor dem eiskalten Schneehang. Er war so keusch, wie es ein Priester nie sein kann – schneeweiss. Und sausteil. Wenn ich «sausteil» sage, meine ich, dass es wie bei einem Hochkamin einfach nur gerade runter ging.

Unten rauschte der Bach. Oben der Vater: «Ich bin enttäuscht, wenn du das nicht schaffst … und ich stocke noch einen drauf: Als Belohnung winkt ein Coupe Wildstrubel im Café Schmid!»

BELOHNUNGEN SIND DIE VERZUCKERTE FORM VON ERPRESSUNGEN.

Man muss sich vorstellen: Das waren die 50er-­Jahre! Wenn wir Lust auf eine Glace hatten, schaufelten wir den Schnee vor der Hütte in ein Glas. Tropften Sirup darauf. Lutschten daran. Und wähnten uns in Rimini.

ES WAR NICHT DIE ZEIT, WO AN JEDER ECKE EIN SIZILIANER SEINE GELATERIA OFFEN HIELT. Der Coupe Wildstrubel war zusammengesetzt aus zwei Kugeln Vanilleglace, einer Kugel Schokoladenglace und über allem: heisse Himbeersauce. DAZU EIN RAHMBERG, DER NOCH NICHT – PFFFFT – GEBLASEN, SONDERN RAUFGEBESELT WORDEN WAR.

DAS WAREN DIE STOFFE, AUS DENEN DAMALS MÄRCHEN GESCHRIEBEN WURDEN.Vor mir also: der steile Abhang – daneben: der grinsende Erpresser. Dahinter: die zeternde Mutter: «Schluss jetzt mit dem Theater!» UND DANN HABE ICH MEINEN ERZEUGER EISKALT RETOUR ERPRESST: «Okay. Ich tus – für einen Coupe Wildstrubel. Aber du musst ebenfalls einen Coupe löffeln. Und dies in lindengrünen Keilhosen, Papilein.»

«ABER NATÜRLICH!» – flötete der in der klaren Überzeugung, die Pflaume würde nie den Hang runterbrettern. Und wenn: sicher nicht lebend unten ankommen.

Ich schnallte die Ski an. Schloss die Augen. Und öffnete sie erst wieder, als der Engstligenbach eisig um meine Schenkel gurgelte…

Es kamen dann alle: die Polizei (es war verboten «wildes Kuhgelände» als Skipiste zu missbrauchen), die Ambulanz (ich hatte die Schulter ausgehängt) und meine Mutter, die ihren Alten «einen hirnamputierten Armleuchter» schimpfte.

Natürlich wollte Letzterer sich später um die Abmachung drücken und in seinem Après-Ski-­Outfit im Café Schmid erscheinen – aber ich erpresste ihn noch einmal: «Wenn du dir keine lindengrünen Keilhosen anwirfst, erzähle ich deinen Sozi-Freunden, dass du heimlich mit Mamas Jaguar fährst und beim Pinkeln sitzt…»

Kinder lernen schnell. Papa löffelte den Coupe Wildstrubel in kunstseidenen Pluderhosen, die meine schadenfreudige Mutter in einem Karnevals-Kostümkatalog aus Viareggio entdeckt hatte (und per Eilpost kommen liess).

Immerhin hatte sie ihm wie bei mir einen Schlitz reingeschneidert. DAS WAR AUCH NÖTIG. Mein Vater sass nämlich nie beim Pinkeln.

Dienstag, 26. Januar 2016