Vom Schottenrock und der Anmache an einer Bar

Illustration: Rebekka Heeb

Er stierte mich an.

Und seine (genetisch vererbte) stark ausgeprägte Kinnlade rutschte nach unten.

Es lag weniger an mir. Als am Schottenrock. Oder dem, was vom Schottenrock übrig geblieben war.

Viele Jahrzehnte später habe ich mich immer wieder gefragt: Wie konnte ein leicht verklemmter Anwalt aus gutem Haus so etwas Verkifftes auf einem Barhocker ansprechen?!

FRAGEZEICHEN. FRAGEZEICHEN.

Und wenn ich heute Innocent um eine Antwort löchere, zuckt er nur leicht depressiv die Schulter: «Es war wohl der vierte Whisky!»

So. Nun zum Schotten, der eigentlich eher ein Lampenschirm war.

Das Ganze hätte als Fasnachtskostüm durchgehen sollen. Hätte. Konjunktiv. Denn damals war die Fasnacht so tolerant wie der Ultra-Islam in der Karikaturenfrage.

Die Sache spielte im Stammverein der Lälli Clique.

Ich: jung, dynamisch, unbrauchbar. Dazu dumm, wie es nur die Jugend mit ihrem Charme überspielen kann.

Als man mich zwingen wollte, zwei Tage lang in diesem unmöglichen Geschlabber von einer Schottenjunte den Parcours abzulaufen, zeigte ich den Stinkefinger. REVOLUTION!

Kurz: Der junge Schotte baute sich um.

Ich war nicht nur ein guter Bläser (das darf ich ohne Eigenreklame behaupten: Mein Ansatz hob die Fensterläden aus den Scharnieren) –, ich war auch geschickt mit Nadel und Schere. Überdies wollte ich heiss aussehen. MEGAHEISS – so würden es Neusprachler jetzt nennen.

Wir wissen alle, dass seit ein paar Jahren Textil-Penisse, Schaumgummibrüste und ausgepolsterte Knackärsche selbst bei den renommiertesten ­Cliquenzügen im Anmarsch sind.

Damals aber schrie «die liebe Frau Fasnacht» bereits nach ihrem Riechsalz, wenn einer etwas mehr als sein Halszäpfchen zeigte. Die Clique jedenfalls hyperventilierte. Aber sie konnte nicht auf mich verzichten (Siehe oben, siehe blasen, siehe Ansatz).

«Ein ausgeschämter Skandal» brüllte der Cliquen­obmann, als ich mit dem umgebauten Schottenrock im Stammlokal auftauchte. Und: «Zieh sofort die Kniesocken hoch!»

Zu Hause hatte ich die lange Junte auf einen Drittel gekürzt. Die Cliquenmänner konnten sich gar nicht einbringen vor Aufregung. «Lass den Saum runter!», brüllten sie. Aber dies­bezüglich war ich vorausschauend gewesen. Ich hatte die Länge des Rocks zu Hause einfach abgeschnitten. IN ­DIESEM SINNE WAR ES SÄUMIG, NACH EINEM SAUM ZU SUCHEN. Es gab nichts, das man runter­lassen konnte.

Sie brüllten, weinten, schimpften. Jemand holte ein Klebeband, das für die Verpackung von Schwerpaketen diente. So zogen sie mir die wollenen Schottensocken bis zu den Schenkeln hoch. Klebten alles fest. Und jetzt sah das Ganze kaum mehr nach Dudelsackbläser aus. Pippi Langstrumpf kam der Sache näher.

«DU MARSCHIERST IN DER MTTE!», tobten sie. Und bauten noch vier Vorträbler um mich herum.

Leider spielte das Wetter gegen mich. Es wurde die kälteste Fasnacht der letzten 40 Jahre. Und meine Oberschenkel hatten die Farbe von Frühlingsveilchen. So wars dann nichts mit megaheiss aussehen – ausser für ein paar Perverslinge, welche sich für Gefrorenes interessierten.

Und obwohl ich gerne den verdammten Schottenrock nach drei Stunden gegen ein paar dicke, wollene Pumphosen getauscht hätte: JUNG, DYNAMISCH, UNBRAUCHBAR! Der Dickschädel gab nicht nach. Also lag ich am Donnerstag mit hohem Fieber im Bett. Die jammernde Mutter («ich hab ja gleich gesagt, zieh dir wenigstens einen Pelz über das knappe Kostüm – das hat Josefine Baker auch immer gemacht!»), Mutti also alarmierte den Arzt. Und der diagnostizierte «Blasenkatarrh» – eine Diagnose, die er dann aber mit zaghaftem Kopfschütteln kommentierte: «Zzzzz … in solcher Art kommt dies eigentlich nur bei Frauen vor!»

So. Wir müssen jetzt wieder zum Barhocker zurück. Und zu Innocent (dessen Kinnlade noch immer auf dem Tresen liegt). Mein schottisches Kostüm war insofern abgeändert worden, als Mutters Tipp mit dem Pelz beherzigt wurde. Dafür trug ich jetzt keine Wollsocken mehr. Kurz: Das Crazy Horse wäre verrückt nach so etwas gewesen.

In der Bar sass ich mit ein paar andern Piccolo-Freunden. Ich hatte mich von der Stammclique losgesagt. Und war nun Bläser in einer kleinen Gruppe, die aus Schreiberlingen bestand. «Präs­sante», so nannten wir uns stolz. Alle: jung, dynamisch, unbrauchbar – das Vorrecht der Jungschreiber.

Unser einziger Tambour war eben daran, den Stand in die Ehe zu feiern. Und wir beschlossen, ihm den Marsch zu blasen (bevor dies dann seine Angetraute ein paar Monate später auch tat).

Wir warteten also in der kleinen Bar auf unsern Auftritt. Und damit wären wir am Anfang dieser schicksalhaften Episode, die mein Leben verändern sollte.

Drei Hocker weiter von mir sass dieser hagere Mann mit dem Kinn von Nick Knatterton. Er putzte sich die Brille. Setzte sie wieder auf. Und schüttelte den Kopf: «Wir haben doch Mai – und nicht Fasnacht!»

Natürlich hätte ich mir für eine Freundschaft, die nun bald in der goldenen Hochzeit gipfeln wird, etwas Aufregenderes als «Anmache» gewünscht.

Etwa: «Sie dummer Schlingel – man trägt doch keinen Pelz!» Oder: «So wie Sie daherkommen, könnten wir beide auf die Glühwürmchenjagd gehen …»

Doch nein: «Wir haben doch Mai – und nicht Fasnacht!». Jung, dynamisch – unbrauchbar!

Ich weiss nicht, weshalb bei mir alle Glöckchen klingelten. Ich hatte damals einen LAP, wie man heute so etwas tauft – einen fixen Lebensabschnittspartner. Aber die leicht melancholischen Augen, das zitternde Kinn und dieses Lächeln, das immer mit einem Fragezeichen verbunden war – dies alles rührte etwas in mir auf – wie der Mixer, wenn er den Longdrink rumrührt.

«Es ist so weit!» – das war der Tafel­major, der für den reibungslosen Ablauf des Hochzeitsabends verantwortlich war.

Ich warf den Pelz an. Und blies das Piccolo aus.

Dann gab ich Innocent ein Stück vom Bierdeckel, auf dem meine Telefonnummer stand: «Ich bin nicht immer so …», lächelte ich.

Drei Tage später rief er an: «Ist die Fasnacht jetzt vorbei?»

Er hätte zumindest jetzt das Register mit den «Glühwürmchen» ziehen können.

Dienstag, 26. Mai 2015