Vom «Was nun?» nach einer vergeigten Matur

Illustration Rebekka Heeb

Es war April. Sonnenschein. Gaukelnde Bienen im Kopf. Und Schmetterlinge im Bauch. FRÜHLING TOTAL ALSO. Ansonsten: Sturm. DENN ICH HATTE DIE MATUR GESCHMISSEN.

Vor bald einmal einem halben Jahrhundert hat sich der Konrektor in der Schule des damaligen Realgymnasiums an mich gewandt: «Kommen Sie heraus!» Dann war es draussen: KEINE MATURA. NON MATURUS – NICHT REIF GENUG! Und so was mir! Zum Thema «früh reif» – hätten die beispielshalber meine rosige Umgebung fragen können. Ich ­verstand es, Erdbeben auszulösen. Nur war das Erdbeben diesmal nicht in den Hosen der ­anderen – sondern im Rock meiner Lieben. Beide Elternteile hatten grosse Pläne geschmiedet. Damit war jetzt zero. DIE TOTALE MEGAPLEITE!

Mein Vater hatte in seinem durchgerasselten Sohn soeben einen künftigen Bundesrat verloren. Meine Mutter hatte bereits eine Anzahlung für ein Chirurgenbesteck geleistet. JETZT DAS!

Vater hatte mich in seiner Trämlersuniform auf dem Rektorat abgeholt. Man hatte den Sechserschlitten beim Barfüsserplatz gestoppt. Und den Führer aus der Kabine gewunken: «Deine Alte ist am Telefon. Sie tönt ziemlich durch den Wind…» Die Mutter des schönsten Kindes hatte sich mit blauen Beruhigungspillen zugedröhnt. Und lallte Unverständliches in den Hörer.

Vater kapierte nur, dass er seinen durch­gefallenen Sohn beim Konrektorat wegtransportieren könne. Und die Partei einen anderen ­Kandidaten für den Bundesratssitz suchen müsse.

Türeknallen – das war sein Auftritt. Und «ALLES DURCHGEWICHSTE VOLLTROTTEL HIER!», zischte er. «Wie meinen?» – der Konrektor, den alle den Ohren-Willi nannte, hörte mies. Und damals gabs noch kein Kind im Ohr.

«Das kommt nur, weil sich bei dir alles um den Schwanz dreht …», brüllte er auf der Vespa. Ich hatte mich elegant im Damensitz platziert. «ABER DIESES HERUMGEBUMSE HÖRT MIR JETZT AUF. DU WIEDERHOLST!»

«ICH WIEDERHOLE NICHT!», brüllte ich un­­ladylike vom Sattel. Und: «LECKT MICH DOCH ALLE…!» Ihr müsst entschuldigen – aber die vornehmere Sprache hat sich erst später­ ­entwickelt. Damals war alles noch Scherbenviertel pur…

Es war die Kembserweg-Omi, die mich an ihre Schürze drückte: «Du armer Bub. Was hast du alles durchgemacht…!»

«HÖR AUF, IHN ZU BEMITLEIDEN!», brüllte Mutter. Langsam liess die Pillenwirkung nach. «NELLY WIRD HOCHWASSER HABEN!» Nelly war Mutters mieseste Cousine. Die beiden gingen so heftig Gift sprühend aufeinander zu, dass mein Vater jeweils demonstrativ die Nasenflügel beben liess: «Hier stinkts verdammt nach Schwefel. Und ich sehe fliegende Besen…» Die Omi liess solches kalt: «Die verreissen sich doch auch den Mund über deine Hüte, Lotti – ARSCH ZUSAMMEN­KLEMMEN. OHREN ZU. UND DURCH!» Es war das kluge Credo einer schwer arbeitenden Putzfrau. Ich habe es mir bis heute zur Bibel gemacht.

«UND WAS GEDENKEN DER HERR NUN ZU TUN?», schluchzte die gute Mama. Und köpfte eine Flasche Melissengeist mit den drei Klosterfrauen. Sie schüttete die hochprozentigen Tropfen gar nicht erst auf den Würfelzucker. Sondern setzte das Fläschchen direkt an.«ICH WERDE DIE JOURNALISTENSCHULE BESUCHEN …», warf ich so cool und lasziv hin, wie Marilyn Monroe, wenn sie ihr «bitte die Haare frisch aufhellen» hauchte. Für eine Sekunde herrschte Schweigen. Dann hob Mutter ab: «Dir hats doch ins Gehirn geschissen… wir wollen keine solche Schreiberfuzzis in unserer Familie … hier leben anständige Leute… und man kennt ja diese Gilde… immer am Glas… kein Rückgrat. Dabei stets die Worte der Partei im Griffel und mit den Genossen im Gleichschritt… NEIN. SO ETWAS FÜTTERN WIR NICHT DURCH. JETZT SAG ENDLICH AUCH ETWAS, HANS!»

Mein Vater zeigte plötzlich wieder diese ­wunderbar träumenden Augen, mit denen er auch neue Billetteusen taxierte: «Ach – unsere Arbeiterzeitung könnte gut einen neuen Chefredaktor brauchen. Und von dort ist es dann nur ein kleiner Schritt in den Nationalrat…» (Man muss sich ­vorstellen – das war vor 50 Jahren und Herr ­Köppel knapp noch in den Windeln. Man kann über den Papa sagen, was man will, aber er hatte einen Riecher für all das Schreckliche, was die Zeit so mit sich bringen würde.)

Mein Mund aber sagte das, was die heutige Jugend auch immer sagt: «Ich will mich zuerst einmal selber finden…» Mutter japste nach: «DICH FINDEN? Räume zuerst mal deinen Saustall auf. Dort findest du nämlich gar nichts ­ausser herumliegenden Socken, miefeligen Unterhosen und DU WEISST SCHON WAS – die Pension Mama kann der Herr ­Journalisten-Sohn sich künftig am Hintern abreiben. DAMIT IST AUS UND FERTIG! ICH NÄHRE HIER KEINEN ­DIESER SCHRÄGSCHREIBER, IN DEREN FÜLL­FEDERN MEHR VON ­DIESEM MIST FLIESST ALS IN ÖSCHTERS GÖPFI GÜLLE­FASS.»

Man kann die gute Mama verstehen. Sie war im Zeitalter der Suffragetten für das Frauenstimmrecht eingetreten. Und ein Journalist hatte ihren Auftritt an einer Kundgebung vor dem Marktplatz bissig kommentiert: «Wenn dies das künftige Frauenbild sein sollte, können die Männer ihre Hosenschlitze schon heute zumauern…» ABER WAS KONNTE ICH FÜR DIE FUTURISTISCHEN ZEILEN DIESES DEPPS?

Die Omi nahm mich wieder schützend an die Schürze: «Höre nicht auf die – jetzt sagst du mir einfach, was du am liebsten werden möchtest…» Ich drückte ihr einen Kuss auf die abgeschafften Hände: «HAUSFRAU», hauchte ich. Natürlich war es ein Scherz. Aber meine Mutter griff stöhnend wieder zu den Klosterfrauen. Und mein Vater verlor nun ebenfalls die Geduld: «DIR GEHÖRTE DER ARSCH VOLL…»

«Wo ist das Peitschlein?», legte ich noch einen drauf. Aber das Timing war falsch. Jedenfalls zog man mich aus dem Verkehr. In Adelboden musste ich mich bei Kühen, Ziegen und Göpfis Lege­hennen neu finden – zumindest so lange bis dieser wunderbare Knecht aufgetaucht ist. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dienstag, 21. April 2015