72 Stunden Delirium

Die übrige Schweiz zuckt die Schultern: Basel - ja und?

Die Stadt am Rheinknie gibt nicht viel zu reden: Ein bisschen Chemie. Ein bisschen Kultur. Und natürlich: Fasnacht. Viel Fasnacht.

Die Sache startet morgen Montag unanständig früh. Kaum ertönt der erste Vieruhrschlag, fällt Basel in einen nachtschwarzen Taumel. Man deliriert in dieser undefinierbaren Seligkeit, die Stadtpoeten als die «drey scheenschte Dääg» bezeichnen.

Wenn aber jemand einen zaghaften Einwand anbringt: «Es gibt doch auch noch anderes - und dies nicht zu dieser verdammten Nachtzeit!» Ja Herrgott! Da ist fertig lustig.

Man kann mit den Baslern über alles diskutieren - nur nicht über die Fasnacht. Da kennen sie kein Pardon: Entweder man spricht die drei Tage heilig. Oder man kann seine Zelte jenseits des Bözbergs aufschlagen.

Vier Uhr also. Von Tausenden Trommelfellen donnert es. Schaufenster-Vitrinen vibrieren wie Geri Müller vor dem Selfie. Grosse Laternen zeigen überzeichnete Figuren. Die Piccolos heulen sich die Seele aus den Löchern. Und 99 Prozent der auswärtigen Besucher schütteln nach einer Stunde den Kopf: «War's das jetzt?» Jawohl, das war's.

Nichts mit Schenkelklopf-Brüllern und Pappnasen-Fröhlichkeit. Nichts mit prallen Busen und einer heissen Nummer. Nein. Alles gibt sich verschlossen. Oft auch mürrisch.

Hypnotische Wirbelwelt

Wenn die Basler Fasnacht auch keine festen Regeln hat - so wird doch jedem klar: Sie ist nicht lustig. Sie ist nicht sexy. Und sie hat keine Pappnase vor dem geschminkten Gesicht.

Wer die Fasnacht am Rheinknie besucht, muss sich bewusst sein: Hier herrscht eine andere Gangart. Der Witz ist rabenschwarz. Die Kostüme sind bis zum Halszäpfchen zugeknöpft. Irgendwelche Schmusereien oder gar One-Night-Stands werden sofort abgeblockt.

Wenn am Morgestraich ein Harst missgelaunter Larven-Gesichter vor einer Beiz haltmacht und sich das Böse vom Kopf abstreift - da sieht darunter alles noch grimmiger aus. Die Pfeifer haben sich physisch so ausgekotzt, dass ihre Herzschrittmacher glühen und sie sich kalkweiss die ersten Coramine einwerfen. (Basler Fasnachtsmärsche brauchen mehr Luft als eine klimatisierte Tennishalle.) Die Trommler aber sind noch nicht ganz auf dieser Erde angekommen. Noch schweben sie weit weg in ihrer hypnotischen Wirbelwelt.

Der Einzige, der um halb fünf lacht, ist der Wirt. Traditionsgemäss schöpft er zu einem meistens übersetzten Preis eine Instant-Mehlsuppe aus. Und die Bebbi, die nicht auf die Skipiste geflüchtet sind, sondern auswärtigen Freunden das Wunderbare und Einzigartige der Basler Fasnacht erklären wollen, nicken wichtig: «Mehlsuppe ist bei uns uralte Tradition. Die Ziibelewaije ist typisch baslerisch!»

Blödsinn. Mehlsuppe wird seit kaum 100 Jahren gelöffelt. Dank Tante Maggi und Onkel Knorr erlebte sie in den sechziger Jahren eine Hausse. Noch um 1910 servierten die Beizer am Morgestraich süsse Weggli. Und Kakao.

Und Zwiebelkuchen? Den haben die Berner Mutzen am Ziibelemärit schon lange vor den Basler Bebbi aus dem Ofen gezogen. Man versteht nun die Frustration der Touristen. Sie haben eine lustige Schau erwartet. Und was sie sehen, sind abweisende Gesichter, die in einer eigenen Welt atmen. Laternenbilder, die kein Schwein kapiert. Ringsum: tiefe Nacht.

Spätestens eine Stunde nach dem Vieruhrschlag fragen sich viele: Weshalb tut einer sich so etwas an? Dann ziehen sie sich übermüdet in ihre Reisecars aus Paderborn oder Colmar zurück. Sie zupfen sich die roten Knollennasen vom Gesicht. Und träumen von einer lustigeren Fasnachtswelt, wo die Menschen über ihre Pappnasen lachen können.

Wer meint, die Basler Fasnacht sei eine uralte Tradition, irrt. Vor 150 Jahren hat das Volk hier noch Prinz Carneval zugejubelt. Und bis 1835 wurde so etwas wie ein Morgestraich von der Obrigkeit klar verboten. Es war dann Metzgermeister Samuel Bell (die Dynastie mit den berühmten heissen Würstchen), der etwa 150 gleichgesinnte Tambouren zusammentrommelte. Der Schlächter - eh ein Frühaufsteher! - rief zur Fasnachts-Revolution. Seither ruesst (trommelt) es in Basel am Morgestraich um 4 Uhr - morgen zum 180. Mal.

Da die Basler aber immer etwas anders ticken, geht ihre Fasnacht eine Woche später als normal in die Laufrunde. Damit will man sich als protestantische Stadt ganz klar gegenüber der katholischen Fasnacht abgrenzen. Ein bisschen Eigenheit dann doch, bitte!

Die grösste Revolution aber haben die Basler Frauen angezettelt. Bis vor dem Krieg hatten sie an einer Fasnacht nichts zu pfeifen. Als in den dreissiger Jahren ein paar mutige «Weiber» (so heisst es in den Annalen) ihre Brüste bandagierten und am Morgestraich inmitten der vielen Männer mitzogen, wären sie - als die Sache herauskam - fast gelyncht worden.

Heute sind unter den geschätzten 15 000 aktiven Fasnächtlern - 11 000 sind beim Comité gemeldet, rund 4000 ziehen wild herum - über 50 Prozent Frauen. Ohne Frauen hätten die meisten Cliquen aufgeben müssen - Piccolo-Nachwuchs etwa ist bei den Männercliquen das ganz grosse Problem. Und nur noch einige wenige schalten auf stur und sagen: «Lieber sterben, als Frauen in unserm Männerkreis aufzunehmen!»

Verändert hat sich auch die Musikalität der Fasnacht. Lange haben sich die Basler Trommler in der Irrmeinung gesonnt: «Besser als wir bringt's keiner aufs Fell!» Die Innerschweizer und Walliser haben dann an den eidgenössischen Wettbewerben ein paar Takte Klartext getrommelt - und immer wieder die grossen Preise abserviert. Also mussten sich die Bebbi am Trommelriemen reissen.

Heute ist die Fasnacht musikalischer. Das Trommeln ist schneller, schwieriger geworden - bereits gibt es Gruppen mit eigener Perkussions-Schau. Die Piccoloklänge hingegen sind feiner, harmonischer, aber auch komplizierter als noch vor 50 Jahren. Damals kamen die Instrumente aus der DDR. Bis sich schliesslich der Ostschweizer Erwin Oesch des Basler Piccolos annahm. Und es klangschön machte.

Integration durch Fasnacht

Die Basler Fasnacht verändert sich - Jahr für Jahr. Es gibt keinen festen Rahmen, keine traditionellen Schritte wie etwa beim Brauch des Kleinbasels, dem Vogel Gryff. Während in den siebziger und achtziger Jahren die Cliquenzüge einfach nur schön waren (es war die Zeit der Üppigkeit und der Wirtschaftsblüte), wurden sie nach den grossen Fusionen und Arbeitslosigkeit plötzlich bissig. Und bitterböse. Wie im Cabaret zeigt sich hier: Je düsterer die Zeiten, umso schärfer werden die Aussagen.

Seit etwa zehn Jahren ist die Basler Fasnacht stark politisch geworden. Man lässt sich keinen Maulkorb umbinden - auch wenn das Comité, das für den Routenablauf der registrierten Cliquen verantwortlich ist, mahnt: «Keine Islam-Witze. Nichts gegen die Kirche!»

Die Basler pfeifen drauf. Heute packt man die heissen Eisen der Weltpolitik an. Und legt den Finger auf die Eiterstellen der Zeit. Statt zu pfeifen und zu trommeln, marschieren die grossen Stammcliquen an den Cortège-Tagen mit eindrücklichen Performances auf.

Die Fasnacht spielt eine andere Tonart - Witze über Zürcher etwa sind out. Aber die Abfuhr von Basel-Landschaft bei der Abstimmung über die Kantonsfusion mit Basel-Stadt kränkt immer noch. Entsprechend wird dieses Jahr auf die Baselbieter mit Spott geschossen. Allerdings kommen mehr als die Hälfte der aktiven Basler Fasnächtler aus dem Landkanton.

Die Fasnacht ist heute nicht nur eine Bebbi-Sache. Unter den jungen Aktiven trifft man Italiener, Spanier, Türken. Neben Fussball ist die Fasnacht der beste Integrations-Moment der Basler. Das war immer so. In den Cliquen hat es nie eine Rolle gespielt, ob einer reich oder arm, aus dem sogenannten Daig oder vom Scherbenviertel stammt - es zählt die Gemeinschaft. Und dass jeder seinen persönlichen Teil zu den auch heute noch 72 verrücktesten Stunden eines Basler Jahres beiträgt.

Sonntag, 22. Februar 2015