Waggis

Louis schlurfte in seinen Holzschuhen zur Grenze.

Er trug die kleine Waggislarve. Und eine weisse Zipfelmütze.

In seinem Einkaufsnetz waren Zwiebeln, Lauch, Karotten – Waggis-Gemüse eben.

Ein französischer Zöllner stoppte ihn: «Das geht nicht Monsieur…!»

«W A S GEHT NICHT?!»

«Es gibt keine Waggis mehr! Die Sache mit dem Elsass ist vorbei – wo leben Sie eigentlich…?»

Das hatte sich Louis auch immer gefragt. Geboren war er als Franzose. Sprach aber Deutsch. Dann kamen die Nazis. Und er war Deutscher. Also babbelte er aus Protest französisch.

Die Amerikaner haben ihn wieder zum Franzosen gemacht – und Charles de Gaulle hat ihm den Dialekt verboten.

Im Herzen ist Louis aber ein Waggis geblieben, ein Elsässer Bauer. Er hatte jetzt 92 Lenze auf dem Tacho. Und er liess sich die Fasnacht jenseits der Grenze nicht vermiesen. Immerhin wartete Maja bei der Schifflände.

Maja hatte er an einem Morgestraich nach dem Krieg kennengelernt. Beide waren noch Teenager gewesen. Beide verliebt – Fasnachtsliebe eben.

Jedes Jahr trafen sie einander zum Morgestraich. Er als Waggis – sie als «alte Basler Tante». Wie damals. Und wenn sie mittlerweile auch beide wacklig auf den Beinen waren – diesen Moment hätten sie sich nie nehmen lassen.

«Es ist mehr als Liebe», hatte Maja einmal ihr Treffen analysiert, «es ist ein Stück Lebens­geschichte … das Elsass und Basel, der Waggis und die alte Tante!»

Und nun also: «Ziehen Sie diese verdammte Larve vom Kopf!»

«LECK MICH!» – Louis sah rot.

DIESER ARSCH VON EINEM HOLLANDE WOLLTE S E I N ELSASS EINFACH TILGEN. ZWANGSFUSIONIEREN!

Zusammen mit den jungen Bauern des Dorfes war Louis nach Strassburg gezogen. Sie hatten wild demonstriert – mit tausend anderen: «MAN KANN RIESLING NICHT MIT CHAMPAGNER MISCHEN!»

Es hatte nichts genützt. Wie immer.

PARIS DIKTIERTE DIE RICHTUNG. UND DIE RICHTUNG HIESS: KEIN ELSASS MEHR.

Der Beamte schüttelte Louis nun heftig durch: «DAS IST BEAMTENBELEIDIGUNG…

EIN AFFRONT AN DIE ADRESSE VON PARIS. UND…»

Er zückte seine Trillerpfeife. Schon ging ein schriller Alarm ab.

Und Louis erwachte total verschwitzt in seinem Bett.

Auf seinem Stuhl lag die Waggis-Hose – daneben die Zipfelkappe.

Er schaute auf den Wecker: gerade noch zwei Stunden!

Natürlich hielt ihn am Zoll von Saint-Louis keine Menschenseele auf. Zusammen mit anderen Elsässern marschierte er über die Grenze zum Fischmarkt.

Die «alte Tante» wartete schon:

«Ich hatte Angst, es sei etwas passiert…», sagte sie und strahlte Louis entgegen.

Dann umarmten sie einander.

Als die Lichter erloschen und der Morgestraich wie ein Erdbeben über die Stadt kam, weinte der alte Waggis unter seiner Larve.

Eine Clique zog in Vollformation an ihm vorbei. Der Binggis-Major, ein kaum gartenzaun-grosser Miniatur-Waggis schwankte unter der wuchtigen Larve und grüsste Louis mit dem Stock.

Der alte Waggis winkte schluchzend zurück.

Maja drückte seinen Arm: «Ich weiss, wie dir zumute ist … lass Paris Paris sein … bei uns hast du immer Asyl. Was wäre eine alte Tante ohne ihren Waggis – Basel ohne das Elsass?!»

Arm in Arm gingen die beiden hinter der grossen Clique her.

Bis es langsam Tag wurde.

Und keiner hat sie diesmal aus ihren Träumen geweckt.

Montag, 23. Februar 2015