36,7

Seine Lunge gab ein Flötenkonzert.

Es war das quengelnde Stöhnen ausgepfiffener Luft – ähnlich wie er es am Kindergeburtstag der kleinen Lucie kürzlich erlebt hatte: Da gab es eine Reihe aufgeblasener Ballonschweinchen.

Wenn man ihnen die Luft rausliess, schnurpfelten sie zusammen. Wurden faltig wie Frauen mit Rente. aber ohne Botox (o.k. – passiert auch Männern!).

Dabei liessen die rosigen Säue diesen hohen ­klageweinerlichen Ton aus, der an eine ­verstimmte Oboe in höchsten Tonlagen erinnerte.

NUN ALSO SEINE LUNGE.

Wenn Sergio tief Luft einholte, rasselte es in ­seinem Brustkasten, wie im Kerker eines schwarz-weiss Gruselfilms. Atmete er aus, ­erzitterten seine Bronchien wie ein Handy auf Vibration-Einstellung.

«UTE!» – immerhin, Sergios alte Oberst-Stimme funktionierte noch tipptopp.

U T E ABER FUNKTIONIERTE NICHT.

Sie stand am Bügelbrett. Und erhob die Augen zum Himmel: «WEICHEI!»

Dann hatte sie mit IHM ein Hühnchen zu rupfen: «WESHALB LÄSST DU ES ZU, DASS SIE SOLCHE WARMDUSCHER ‹DAS H A R T E GESCHLECHT› NENNEN! WO IST HIER W A S HART?» Sie knallte das Bügeleisen hin. Das Adrenalin rollte in ihren Adern – man kann sagen: Ihre Temperatur überstieg 36,7 relativ hoch…

«WAS IST LOS?!»

Er schaute sie mit diesem leidenden Blick eines angeschossenen Rehs an – einen Trick, den er schon als Kind an Weihnachten bei der Omi anwendete, wenn er nur Unterhosen im Päckchen fand.

«Ach, Utilein…», seine Stimme brach, «… du weisst doch, wo im Ernstfall die Versicherungs­unterlagen liegen?! Das Testament ist bereits…»

Ute zählte auf fünf. Dann nahm sie seine Hand in die ihre. Und schaute ihn innig an: «Was fühlst du jetzt – Schatzi?»

Er versuchte zu lächeln, aber ein unglaublicher Schmerz hatte eben wie ein Schwert seine ­Kopfplatte durchstossen (es war ein Nies­versuch) – nun keuchte er und flüsterte: «Ich spüre deinen Finger, Utilein…»

«EBEN!», knurrte sie und nahm ihre Hand aus der seinen. Und Sergio sah in den gestreckten ­Stinkefinger: «Wir haben in diesem Jahr bereits viermal das Testament geändert und sechsmal die Unterlagen für die Versicherung bereitgestellt …ES REICHT JETZT! IHR MÄNNER ­SOLLTET MAL KINDER GEBÄREN MÜSSEN!»

Er schmollte ins Kissen. Immer kam sie mit dem «Kinder gebären!».

O. k., Frauen hatten ein höheres Leidenspotenzial – ABER MÄNNER STARBEN FRÜHER! DAS WAR STATISTISCH ERWIESEN.

«Niemand versteht die Männer …» flüsterte er in die Bettdecke.

«Vor allem nicht die Heissfiebrigen mit 36,7 …»

Er versuchte es nun mit einem Lächeln: «Ach, ­Utilein – du bist doch mein tapferer Krieger …mein Fels in dieser schrecklichen Krankheit. Ich wollte dich nur bitten: Die Marlboros sind im Schreibtisch und …»

«FICK DICH!», tobte Utilein.

Eine Stunde später stand er im Morgenrock auf der Terrasse. Und zog gierig an seiner Zigarette. Die Nachbar-Balkontüre öffnete sich. Ein Mann schlurpte in zwei Morgenröcke und einen ­Wintermantel eingemummelt heraus. Er steckte sich einen Stumpen an.

Die beiden Männer nickten einander zu.

«36,7» – keuchte Sergio.

«Bei mir ist es auch bald so weit… 36,5», hustete der andere.

Dann wünschten sie einander viel Kraft.

Und alles Gute.

In ihrem weinerlichen Ton hörte man das Rasseln der Lungen. Das Sterben der rosigen ­Ballonschweinchen – und doch auch

die Erleichterung, kein Kind gebären zu müssen.

Montag, 9. Februar 2015