Ausgebreitete Arme

Sie war einfach da.

Ihre hellen Augen lächelten ihn an. Und sie ­breitete ihre Arme aus.

Ernst wusste nicht, was das soll.

Erstens kannte er die Frau nicht.

Zweitens, was bedeuteten die ausgestreckten Arme. Wollte sie ihm den Weg absperren? Oder sollte er sie umarmen?

Die andern Leute, die ebenfalls auf das Tram ­warteten, schauten bereits neugierig. Einige ­grinsten. Andere guckten geniert weg.

«Hallo», sagte Ernst.

Die Augen lächelten unverändert. Die Arme ­blieben ausgestreckt. Eine Antwort kam keine. Aber das Tram.

Er stieg ein. Als er aus dem Fenster sah, stand die Frau noch immer mit weit ausgebreiteten Armen da.

«Eine Verrückte», brummte der Mann neben ihm.

Er zeigte aus dem Fenster: «Sie hat es bei mir auch schon getan … »

Das Tram machte einen Bogen. Der Alltag fuhr auf den gewohnten Schienen weiter.

Im Büro musste Ernst immer wieder an die Frau denken.

Sie war nicht jung gewesen. Vielleicht 50? Im Alter von Sascha.

24 Jahre lang war er mit Sascha verheiratet ­gewesen. Sie hatten Pläne für die silberne ­Hochzeit geschmiedet – eine Reise nach Apulien. Sascha meinte, dass es dort die schönsten ­Olivenbäume gebe. Und sie hatte immer Bäume geliebt – hatte sie umarmt, wie sie auch ihn umarmt hatte.

Ernst schrak aus seinen Tagträumen auf. Seine Sekretärin brachte ihm die Mappe mit den Briefen – «der an die Landolt-Bank muss ­eingeschrieben geschickt werden!», sagte er.

«Ich weiss», nickte sie gereizt.

«Entschuldigung, dass ich lebe … », gab er ebenso gereizt zurück.

Dann dachte er wieder an die Frau mit den ­langen, hellen Haaren. Sie hatte eine unsagbare Ruhe ausgestrahlt – etwas Stilles, das nicht von dieser Welt war.

Er schaute in den Park. Noch waren die Äste kahl. Trauerschwarz. Februar eben – und kein Hauch von Grün. Kein Moment von Frühling, von ­Hoffnung … «Ginge ein Kaffee … ?», meldete er sich durch die Sprechanlage.

Man hörte nur ein Klick-klack. Seine Sekretärin war heute wirklich echt mies drauf.

Ein Reisebüro hatte Sascha und ihm eine ­Rundreise zusammengestellt. Ausgangsort war Brindisi. Und dann kam plötzlich dieser Schmerz. Zuerst hatte Sascha gedacht, es sei eine Muskel­verspannung. Nach drei Tagen ging sie zum Arzt. Der überwies sie sofort ins Spital.

Später haben sie ihn getröstet: «Sei froh, dass sie nicht lange leiden musste ... es ist ihr viel erspart geblieben ... natürlich ist so ein plötzlicher Tod ein Schock ... aber letztlich war es besser für sie. Und für dich ... »

Er konnte nicht mehr schlafen. Pillen brachten nichts. Er lag seit ihrem Tod Nacht für Nacht wach. Seit drei Jahren und fünf Monaten. Ohne Schlaf. Nur mit den Gedanken bei ihr.

«Achtung – die Tasse ist heiss … », sagte die ­Sekretärin. Sie hatte ein Bricelet an den Tellerrand gelegt. Versöhnungsgeste vermutete Ernst.

«Eine Frau hat mich gestalkt. Sie hatte helle Haare, die Arme ausgebreitet und … »

«Kenne ich», lachte die Sekretärin, «hat sie bei mir auch schon gemacht ... seltsame Gestalt. Aber irgendwie lieb ... von einer andern Galaxie ... »

Fünf Minuten später sah sie, wie Ernst durch den Park ging. Vor einem Baum machte er halt. Er zögerte. Dann umarmte er den dunklen, rissigen Stamm.

«Buchen Sie mir Apulien ... », lächelte er, als er ins Büro zurückkam.

«Mögen Sie noch einen Kaffee ... ?» lächelte sie zurück.

Abends schlief er erstmals wieder durch.

Nach drei Jahren und fünf Monaten.

Montag, 2. Februar 2015