Mimosen

Sie entglitt ihm. Langsam.

Sie schwamm immer weiter von ihm weg. Wie eine tote Blume, die das Meer an den Horizont trug.

Alex stand in der Küche. Er vermischte Quark und Körner – mit viel Honig. So wie sie es gerne mochte.

Er spürte, wie sein Magen rebellierte.

«Sie können Ihre Frau immer mal wieder heimnehmen, Herr Huber ... aber sie würde vermutlich ängstlich reagieren, wenn man sie aus dem gewohnten Umfeld herauszieht.» – Die Ärztin hatte gelächelt: «Ich weiss, dass es ein schwerer Entscheid ist ... aber jetzt müssen Sie an sich denken.»

Er hatte sie an einem Fasnachtsball kennen gelernt. Sie kam als kokettes «Düpfi» an den Tisch geflattert. Tanzte mit ihm. Und flüsterte durch die Larve: «Du tanzt gut...»

Dann war sie wieder wie auf Wolken getragen davongeschwebt.

Nach Mitternacht, als die Larven weggezupft wurden, sah er sie an der Garderobe. Er hätte sie unter Tausenden wieder erkannt. Sein Herz schlug im Galopp. «Darf ich dich noch zu einem Glas Wein einladen...?»

Es war die grosse Liebe.

Am Tag nach dem Ball schickte er ihr einen Mimosenstrauss.

«Ich mag die goldenen Blüten am liebsten», hatte sie gelächelt. Sie sind wie das Leben – zuerst ­winzige Versprechungen... dann explodieren sie zu duftenden Schönheiten... schnell aber erstarren sie und erinnern an den Tod...»

Immer wieder hatte er ihr Mimosen geschenkt. Kaum dass die ersten dottergelben Blüten in den Blumengeschäften zu haben waren, legte er ihr täglich einen zart duftenden Zweig auf den Frühstückstisch.

Jedes Jahr fuhren sie Ende Januar nach San Remo. Nur um die Hänge mit den goldenen ­Blüten zu sehen.

Es war eine gute Ehe. Keine grossen Highlights. Keine Downs. Wunderbares Gleiten in einem warmen Wasser des Vertrauens: Wir haben einander – nichts kann passieren.

UND DANN PASSIERTE ES DOCH.

Schleichend. Zuerst vergass sie Namen. Nicht schlimm. Das passierte ihm auch.

Aber dann holte sie drei Mal am Tag beim Bäcker Brot. Als Alex sie auf die vielen Weggen hinwies, meinte sie nur: «Ich hab vergessen, dass ich schon dort war...»

Sie stockte nun auch beim Zahlen, oder wenn sie den Fernseher bedienen sollte: «Ich weiss nicht, was mit mir los ist...»

Die Ärztin wies sie in die Memory-Klinik ein. Zur Abklärung.

Er gab seinen Beruf auf. Frühpensionierung. Das bedeutete Pensionseinbusse. War ihm egal. Er wollte nur noch bei ihr sein – für sie sorgen.

«Du machst dich kaputt», sagten die Freunde.

«Ich kann nicht anders», sagte er.

Sie sprach nun nicht mehr viel. Vergass seinen Namen. Nur wenn er die alten Fotoalben mit den Bildern aus San Remo durchblätterte, spürte er bei ihr ein Aufblühen.

Er konnte sie nicht mehr alleine lassen. Das bedeutete Dauerjob.

Als er die Kellertreppe runterfiel, stellte die Ärztin «Übermüdung» fest. Und: «Sie haben Stress-­Symptome. Ich glaube, Sie müssen jetzt loslassen, Herr Huber...»

Am Mittag wird man sie abholen. Das Heim hat ein grosses, wunderbares Zimmer.

Aber in ihm ist ein Gefühl des Versagens, der Verzweiflung...

Er legt ihr einen der ersten Mimosenzweige dieses Jahr auf den Teller.

Sie streichelt die Blüten. Dann streichelt sie seine Wange. Etwas, das sie schon lange nicht mehr getan hat: «Danke... danke für alles!»

Er weint. Und geht in die Küche zurück.

Dort stehen noch viele Mimosen.

Die meisten sind bereits am Erstarren.

Montag, 19. Januar 2015