3660 Gramm Asche

Irmtraud schwankte im Tram hin und her.

Energisch klemmte Sabine sie zwischen den Beinen fest.

Die Mamma war 3660 Gramm Asche. Und steckte in einem Coop-Sack.

Dabei war Irmtraud ein Leben lang Migros-­Gängerin gewesen.

Als ihr ein Studentendoktor die Schmerzen dieses widerlichen Geschwürs mit einer Ladung ­Morphium intravenös dimmen wollte, hatte sie ihn angefaucht: «Was sollen diese Plastikschnüre hier? Könnt ihr keine anständigen Leitungen legen? Da hättet ihr mal meinen Walter sehen sollen…»

Ihr Walter legte Leitungen beim staatlichen Wasserwerk. Leider legte er Irmtraud auch ein Ei. Und einer andern Blondine einen Balg ins Nest.

In jenen Zeiten fackelte man nicht lange herum. Irmgard knallte ihrem Alten die Eierpfanne über die angehende Glatze. Packte ihm das Nötigste in seinen Touren-Rucksack. Und brüllte: «Hau ab zu deiner Schlampe, du Schwein!»

Dann rief sie die Schlampe an. Und hustete ihr eins…

Das Flittchen heulte hysterisch auf, als Walter mit einer hühnereigrossen Beule vor ihrer Türe aufkreuzte: «Zieh Leine, du Sausack! – weshalb hast du mir nicht gesagt, dass du eine Tochter hast?»

Gottlob gabs schon damals das Heilsarmeeheim für Männer – denn Männer hatten es seit Adams gierigem Apfelbiss immer schwerer als ihr Rippenstück.

Walter verlegte weiterhin Röhren. Bezahlte Alimente. Und durfte einmal pro Monat mit seiner Tochter die Enten im Rhein füttern.

Dann gab er Sabine bei Irmtraud wieder zurück – wie ein Postpaket. Adressat unbekannt.

Schon als Kind schwor Bienchen, alles besser zu machen als ihre zänkische Mutter!

Sie setzte auf Flower-Power. Hatte mit 22 die erste Abtreibung. Und musste sich von ihrer Mamma nun anhören: «Ich habe nicht meine Jugend geopfert, damit meine Tochter wie eine läufige Hündin herumstreunt…»

Der Biss blieb ihr erhalten

Das Verhältnis blieb unterkühlt. Die Tochter suchte sich Arbeit als Krankenschwester in Drittweltländern. An den Geburtstagen flogen Glückwunschkarten hin und her.

Als Sabine nach 45 Jahren heimkam, war die Mutter alt. Doch ihre Zähne hatten noch immer denselben giftigen Biss wie damals – auch wenn der Biss mit Kukident zusammengehalten wurde.

«Kommst du, um mich zu beerben?», gab die Alte Zunder.

«Hoffentlich gibts eine Brockenstube, die diesen Grümpel kostenfrei abholt!», konterte die Tochter.

Und «Leck mich!», grinste die Mutter, bevor sie wieder im Nirwana des Morphiums die Engels­boten düdeln hörte.

Irmtraud kam ins Pflegeheim – der Arzt hatte ­Karzinome festgestellt.

«Sie dröhnen mich mit diesen Dingen zu, die du dir als junges Mädchen reingepfiffen hast …», gab sie ihrer Tochter den Ist-Stand durch. Und: «SABINE – DIESE BLUSE LOTZT. SOLL ICH MICH DEINETWEGEN BLAMIEREN? KANN MAN NICHT MAL IN FRIEDEN STERBEN?!»

Sie wollte, dass ihre Asche mit dem Rhein ins Meer getragen würde. Sie hatte ein Leben lang vom Meer geträumt – «ich bin nie über Möhlin hinausgekommen», seufzte sie. Und tätschelte erstmals Sabines Hand: «Es war auch recht so!»

Als die Tochter am Fluss die Plastiktüte aufschnitt und das anthrazite Pulver ins Wasser kippte, blieb ein Herr mit Hündchen kampflustig vor ihr stehen: «Lassen Sie das gefälligst – man wirft keinen Schmutz in den Rhein!»

«LECK MICH!», brüllte ihn Sabine an.

Ganz die Mamma.

Dann erst weinte sie.

Montag, 15. Dezember 2014