Von der tschechischen Melancholie und Blähungen

Illustration: Rebekka Heeb

Prag ist schmelzendes Moll – eigentlich stimmungsmässig eine Moll-tau-Variante.

Da kann lange die Sonne scheinen. Und der Himmel sich in diesem Blau der Zwetschgen zeigen, die sie hier in Backwaren reinkomponieren. Man ist immer einen Zacken traurig drauf. Die Moldau ist bräunlich-grün. Und die slawische Seele zeigt diese dunkle Melancholie, die uns Westler nur überfällt, wenn der Novartis-Kurs gesunken ist oder der FCB in der Verlängerung das Gegentor kassiert.

Pavel hat schon wieder Tränen im Auge. Es genügt, dass er ein rotes Ahornblatt auf der ­Moldau kreiseln sieht: «Das ist einfach unser Natürell… wir können nur gedämpft glücklich sein…wir wickeln jedes Glücksgefühl in eine schwarze Asbestdecke, damit es nicht zu stark brennt…»

ALSO WENN MANS SO SEHEN WILL! FEELING-CONTROL!

Nichts für mich.

Ich wickle gar nichts ein … bei mir jauchzt das Herz schon, wenn das Auge diese zuckergussigen Küchlein sieht, die sie hier Vetrniky nennen.

FRAG NICHT, WIE MAN SIE AUSSPRICHT. ABER FRAG MICH, WIE SIE SCHMECKEN!

Es ist ein kugeliger Brühteig-Traum, der mit dicker Karamellcreme aufgepumpt wird. Ich meine: Das sind keine Moll-Töne. Das ist zuckrige Kalorien­koloratur pur. Moll-ig wird nur das Resultat: drei Bissen Glück – vier Nummern mehr auf den Hüften. OKAY. DAS IST DANN DER MOMENT, WO DIE DUNKLE MELANCHOLIE AUCH BEIM WESTLER GEIGT…

«Heute Abend möchte ich Tatar beim ‹Tiger›…» – gebe ich bei Pavel den Wunsch fürs Abendprogramm durch. «Welcher ‹Tiger›, welches Tatar…?» – er schaut mich fassungslos an. Dabei hat er bei seiner lieben Mutter eine Ente auf Sauerkraut für mich bestellt. ABER ICH MAG DIE SAUERTÖNE VOM SAUERKRAUT NICHT. Sie machen mir einen Blähbauch. Deshalb: TATAR BEIM «TIGER»! In diesem «Tiger» war ich mit meiner Tante Ruth. Die Adresse hatte ich von Frantisek. Er ist in Prag aufgewachsen, hat dann aber als Nationalökonom in Basel Wurzeln geschlagen. Doch wie alle Tschechen zog das Heimweh ihn mindestens vier Wochen im Monat an die Moldau zurück – und dies nicht nur der Knedliky wegen, dieser Prager Knödelvariante, die meines Erachtens nur mit viel, viel Sauce oder dann als Fensterkitt-Material ihre Berechtigung findet.

Frantisek also: «Du musst unbedingt beim ‹Tiger› Tatar essen. Das Beste auf der Welt. Aber vorbestellen… der Laden ist immer gerammelt voll!»

Tante Ruth warf ein Abendlanges und drei Pfund von ihren Hochkarätern an sich. Als ich in einer trachtenfröhlichen Jäger-Jacke erschien, fuchtelte sie mich wie einen Hund, der sich im Kuhmist gewälzt hat, ins Zimmer zurück: «Wenn wir schon chic ausgehen, zieh etwas Anständiges an!»

Ich zog die Opernschuhe hervor. Und zwängte die Bauchbinde um, sodass die Luft wegblieb. Und mein Kopf schon bald einmal das Rot der alten Sowjetunion widerspiegelte.

Wir liessen durch den Concierge einen Tisch reservieren. Der Mann schaute leicht verwundert: «Sie meinen wirklich den ‹Tiger›?» Tantchen salbte noch einmal seine offenen Hände. Er nahm seufzend den Hörer auf und hielt diesen einen Meter weit vom Ohr, als sich endlich jemand am andern Ende meldete. «Hier ist das ‹Intercontinental› …», hüstelte unser Empfangsmann vornehm. «Bitte einen Tisch für zwei Personen – wenn möglich einen Fensterplatz für die Herrschaften.»

Man hörte viele, laute Stimmen. Jemand brüllte etwas in den Hörer. Der Concierge hängte auf. Und zuckte die Schultern: «Wollen Sie nicht bei uns im Panorama-Restaurant?» WIR WOLLTEN NICHT! WIR WOLLTEN NUR WISSEN, WAS DIE STIMME IN DEN HÖRER GEBRÜLLT HATTE …

Aber der Concierge erklärte, er könne das nicht übersetzen…

Natürlich verliefen wir uns dann in der Altstadt. Und diese Altstadt hat Pflastersteine, klein und würfelig, sodass sie die Touristen immer wieder aus dem Boden raus­pulen. Und sie als Briefbeschwerer und Souvenirs heimnehmen.

Ruthchen schwankte auf den Steinen wie ein Christbaum im Sturm – sie zupfte entschlossen die Pumps von den Zehen. Ihre Knaller brillerten mit den böhmischen Gläsern um die Wette. Und dann fanden wir den Eingang. Als wir die Türe öffneten, schwappte uns eine Wolke von Rauch und Bier entgegen – «wir haben reserviert», flötete ich zum Mann, der am Tresen einen Humpen nach dem andern vollzischte.

«KEIN PLATZ HIER!» – brüllte der uns an. Aber als er die Tante mit den Schuhen in den Händen sah, scheuchte er zwei Studenten von einem der langen Holztische. Und befahl uns «den Arsch breit zu machen» (wie die Übersetzung nach Ruths Taschenbuch «Tschechisch in 7 Tagen» erklärte).

«Haben Sie Kir Royal?», sülzte die Tante. Er knallte zwei riesige Humpen mit Pilsner vor uns hin. «Wir hätten gerne Ihr berühmtes Tatar… einmal pikant, ohne Zwiebeln, dafür mit zwei Eigelb und einmal alles etwas süsslicher…» Das war ich.

«Lachowitschi!» Ich weiss nicht, ob es genauso hiess. Jedenfalls verstanden wir etwas Ähnliches wie «IHR KÖNNT MICH MAL!». Und dann das Highlight: Das Tatar schmeckte göttlich. Dazu gabs Schwarzbrot, welches auf offenem Feuer geröstet worden war. Und eine Butterkugel in der Grösse eines Babykopfs.

EBEN DIES ALLES ALLES WOLLTE ICH MIT PAVEL NOCH EINMAL ERLEBEN.

Als wir den «Tiger» betraten, war er so knallbumsvoll wie damals. Gut. Kein Rauch mehr. Aber noch immer Bier. Bier. Bier. Und viele, viele Männer. Nur Tschechen.

Für einen kurzen Moment war es still wie im Dom. Die Kerle, zum Teil bereits im Promille-Nirwana, musterten mein senfgelbes Jackett mit den Vergissmeinnicht-Knöpfen.

Und der Bierzapfenmann schüttelte knurrend den Kopf: «WIR SIND VOLL!» Na gut. Das sah ich auch. Zur tschechischen Melancholie kam hier noch eine Portion Phobie gegen alles, was rosig und lustig ist.

«Mamma, wir kommen zur Ente», rief Pavel draussen auf dem Handy sein Mütterchen an.

Natürlich gabs Sauerkraut dazu. Und Blähungen.

Dienstag, 2. Dezember 2014