Zickenkrieg

Als Anna den Saal des «roten Löwen» betrat, blieb für eine Sekunde die Zeit stehen.

Vorher hatten sich alle mit etwas zu mayonnaisigen Apéro-Häppchen vollgestopft. Jeder fütterte den andern mit überzuckerten Floskeln wie «also du bist kein Jährchen älter geworden» oder «wie voll dein Haar noch ist, Louise!» (obwohl das kahle Ende von Louise bereits zu ahnen war).

Nach 40 Jahren sah man einander zum ersten Mal seit der Matur wieder.

Es war Alberts Idee gewesen. Während die Klasse eher dösig und nicht sonderlich auf der kreativen Seite daheim war (bis auf das eine Mal, wo man Shaws «Kaiser von Amerika» aufführte und die Kaiserin durch Heinz-Hugo, die Klassenschwuchtel spielen liess), wurde Albert schon in jüngsten Jahren Wölfli-Führer. Später ein hohes Tier beim Schützenverein. Und seine grosse Leidenschaft galt den Eisenbahnen. (Schmalspur).

MUSS MAN NOCH MEHR SAGEN?

Nun hatte er an alle «Ehemaligen der Klasse B ein Foto verschickt, welche die 21 Maturanden mit ihren Abschlusszeugnissen vor der Aula zeigte. Über dem Klassenfoto schrien Grossbuchstaben: «WISST IHR NOCH…?»

Als man im «Löwen»-Säli eben daran war, die alten Pauker durchzuhecheln, öffnete sich die Türe. Und Anna erschien. Anna war wild ­aufgemotzt: rosige Jogginghose mit Ballerinenschuhen, auf denen Glasbrillanten ein Feuerwerk abstrahlten. Enges Top. Und ein Ausschnitt, der die beiden Brüste zum Himmel emporhob, als wäre zwei Mal die Sonne aufgegangen.

«Aber hallöchen zusammen!», trällerte Anna. Ihre Wimpern klapperten, sodass die Servietten im Ständer ins Rascheln gerieten. Elvira – sie war stets die Klassenbeste und mit Klassenabstand die Hässlichste gewesen, sülzte: «Guten Abend, Anna – mach die Türe zu. Aber nicht zu heftig. Wir ­wollen nicht, dass bei deiner Fassade der ganze Putz abbröckelt…»

Die einen lachten. Die andern schwiegen peinlich berührt.

ZICKENKRIEG. Das war vor 40 Jahren schon so. Nur kannte man das Wort noch nicht. Das Ganze knisterte zwischen den beiden unter «Weiberzoff». Anna war stets die Traumfrau der Klasse gewesen. Die pubertierenden Jüngelchen haben ihr heisse Briefchen ins Schreibetui gelegt (ausser Heinz-Hugo) – doch Elviras Beutel blieb leer. Wer wollte schon mit einer Pythagoras-Expertin flirten. UND DANN NOCH VORSTEHENDE ZÄHNE!

Anna war nicht das, was man ein Licht nennen könnte. Aber mit ihren damals schon sehr ­entwickelten zwei Sonnen und dem Schmuse­kätzchen-Lächeln polierte sie jede 3 auf eine «4 plus» auf. Elvira protestierte beim Lehrerrat. Aber ­Proteste, die durch Hasenzähne ausgerufen ­werden, haben es immer schwer.

Elviras Triumph kam, als bei Anna in der siebten Klasse die Tage ausblieben. Und ausgerechnet der Religionslehrer seine Hände im Spiel hatte (nun ja, nicht eigentlich die H ä n d e)

Skandal! Skandal!

Wie schon damals: Es gab auch 40 Jahre nach der Matur (und der Niederkunft von Annas kleinem Sohn Theo) zwei Parteien: Die einen versammelten sich sofort um die Frau mit den Strass-Sandalen (vorwiegend Männer). Die andern straften sie mit Distanz und Nichtbeachtung.

So war der Klassenabend eben das, was auch die Klasse acht lange Jahre war: durchschnittlich – hier auf drei mühsame Stunden im Säli des «Roten Löwen» konzentriert.

Natürlich hatte Anna damals den Religionslehrer geheiratet. Sich aber nach drei Jahren scheiden lassen. Und einen reichen Zürcher Tuben­fabrikanten an Land gezogen.

Sohn Theo hing schon bald an der Nadel, was Elvira in ihrem Jahresrundschreiben an alle mit einem knappen «na bitte!» kommentiert hatte.

Elvira hat sich übrigens mit 25 die Zähne richten lassen. Und wurde Professorin für angewandte Psychologie im Alltag. Sie blieb ledig.

Montag, 3. November 2014