Der Pizza-Bettler

Svetlana stand am Fenster. Unter ihr war einer der schönsten Plätze der Welt.

Die Putzfrau des Luxus-Hotels beim Pantheon schüttelte den Staubwedel aus.

UND DAS WAR EIGENTLICH VERBOTEN.

Die Hotel-Gouvernante hatte sie bereits zweimal verwarnt. Es ging nicht an, dass man die alte Stadt mit neuem Dreck bewarf. Das konnten Politiker mit- und untereinander tun.

ABER NICHT DIE ZIMMERPUTZERIN EINES HOTELS AN DER PIAZZA DELLA ROTONDA.

Für einen Moment verweilte Svetlana am Fenster. Sie genoss diesen frühen Morgen in Rom.

Die ersten Touristenherden strömten zum ­Pantheon. Tamilische Souvenirverkäufer hatten ihre Ständlein aufgestellt. Und die ­Strassen­musikanten hatten ihre Lautsprecher- anlage hingepflanzt. Svetlana wollte wieder ins Zimmer zurück, als sie Rico anschlurben sah. Auch er war stets früh.

Noch waren die Abfallkübel nicht geleert. Und Rico untersuchte sie nach den letzten ­Pizza-Resten, welche die Touristen weggeworfen hatten.

Im Centro storico nannten sie Rico den «Pizza-Bettler».

Fand er ein appetitliches Stück einer Margherita (seine Lieblingssorte), schnippelte er mit einem Messer die angebissenen Stellen weg. Wickelte den schlaffen Brotkuchen in ein Stück Papier. Und steckte ihn in seinen zerknitterten Plastiksack.

Manchmal schauten ihm Touristen angeekelt zu. Einige fotografierten ihn. Andere knübelten eine Münze aus ihrem Portemonnaie. Und drückten sie Rico in die Hände: «Da, guter Mann ... jetzt kaufen Sie sich mal ein ordentliches Stück Pizza!»

Rico lächelte dann scheu. Und dankbar.

Am Abend warf er die Pizzastücke in eine Tonne im Aussenquartier. An der Kasse des ­Supercenters liess er sich die Centstücke in zwei, drei Papierscheine ummünzen. Rico lebte so nicht schlecht.

Er war es auch gewesen, der Svetlana geraten hatte, sich beim Hotel für die freie Putzstelle zu bewerben.

Sie war 1991 aus Slowenien geflüchtet. Rom war ihr Bestimmungsziel. Als Katholikin war sie ­überzeugt, dass sie in dieser Stadt, wo der ­Schlüssel von Petrus aufbewahrt wurde, ihr Glück finden würde.

Natürlich war das eine Illusion gewesen. Und als sie hungrig auf der Steinmauer neben dem ­Pantheon sass, als sie Rico beobachtete, wie er die Pizzastücke aus dem Dreck fischte, nahm sie allen Mut zusammen: «Kann ich auch ein Stück haben...?»

Er hatte ihr in einer Nebengasse zwei Stück Margherita gekauft. Und den Tipp mit der freien Putzstellle gegeben.

Später hatte sie sich bei ihm bedanken wollen. Er aber hatte schroff erklärt: «Es gibt keinen Dank ...jeder stirbt für sich alleine!»

Immer wieder hatte Svetlana dann den alten ­Bettler vom Hotelzimmerfenster aus beobachtet. Sie hatte auch gemerkt, dass er die Pizzastücke nun nicht mehr einwickelte. Sondern sie ­heisshungrig verschlang.

Die Zeiten waren schlecht geworden. Auch für Bettler. An diesem Morgen beobachtete sie etwas ­wehmütig, wie Rico wieder im Abfall ­herumnistelte. Da sah sie, wie die kleine Gestalt zusammensackte. Und am Boden liegen blieb.

Sie rannte die Hotelstufen herunter. Als sie beim Bettler ankam, standen da bereits zwei Polizisten. Einer redete auf sein Telefonino ein.

Zehn Minuten später deckten sie Rico mit einer Kunststoffdecke zu – sie wickelten ihn ein, wie der Bettler immer die sauber abgesäbelten ­Pizzastücke eingewickelt hatte.

«Jeder stirbt für sich alleine ...», flüsterte Svetlana. Sie hatte Tränen in den Augen.

Es waren die einzigen Augen, die um Rico ­weinten.

Montag, 20. Oktober 2014