Old Lady

Die Frau faszinierte ihn.

Das war nicht aussergewöhnlich.

Er fuhr immer auf Frauen ab.

ABER DIE HIER HATTE MINDESTENS IHRE 80 AUF DEM TACHO!

Sie war stark geschminkt. «Etwas zu stark», fand Rolf.

Die Nägel der «Old Lady» (wie er sie heimlich nannte) waren blutrot lackiert – ihre Lippen im selben Ton dick gestrichen. Und die Augenlider hatten das dunkle Nachtviolett der Auberginen.

Jeden Morgen tauchte Old Lady in der Cappuccino- Bar auf – meistens fünf Minuten später als Rolf. An der lackledernen Leine führte sie etwas, was wie ein Hund aussah. Das Bündel war kaum grösser als das Haartoupet seines Onkels Max. Aber es hatte ein Kläff-Organ, das die Gläser zum Scheppern brachte.

Old Lady tippte mit ihrer Hand drei Mal auf einen der geflochtenen Fauteuils. Schon hüpfte das Toupet auf den Sessel. Es wartete hechelnd auf sein Frühstück – das war eine seltsame, dünne Trockenwurst, die Old Lady aus ihrer Handtasche hervorzauberte.

Die langen Finger drehten kleine Stücke von der Wurststange ab: «Gut kauen – Hercule!»

WIE KONNTE MAN DIESEN MINI-FLAUMER NUR HERKULES TAUFEN!

In einer Zoohandlung hatte sich Rolf aus reiner Neugier nach der seltsamen Wurst erkundigt: «Iss Dloggenwulst… sehl halt… gut füll Beisselchen…» – klärte ihn die chinesische Verkäuferin auf. Und verkaufte ihm zwei Packungen.

Am andern Morgen streckte er dem Mini-Flaumer die Wurst entgegen.

Das Toupet rümpfte verächtlich die Nase.

Und die Augen unter den auberginefarbigen Lidern funkelten vergnügt: «Hercule weiss, dass er von fremden Herren nichts annehmen darf … Hunde sind treuer als Männer!»

Erst als Old Lady dem Hund mit «ist gut, Hercule» Grünlicht gab, machte dieser sich über die Hartwurst her.

So kam Rolf mit Old Lady ins Gespräch.

Und Hercule wurde Stück für Stück auch sein Hund.

In Rolf loderten mit der Zeit Fragen wie: Ob Old Lady wohl von der Operette kommt? – Hat sie als Couturière gearbeitet? Was war da wohl mit Männern…?

ABER NATÜRLICH KONNTE ER SIE MIT SO ETWAS NICHT LÖCHERN.

Sie war eine Lady. Da kratzte man nicht am Lack.

Giuseppina, die Besitzerin der Cappuccino-Bar, klärte ihn dann eines Tages auf: «…sie war eine Klasse-Hure… kein Strassenstrich… nur Stammkundschaft aus den besten Kreisen… mit 75 hat sie aufgehört. Und sich den Hund zugelegt…»

DA WAR NUN GAR NICHTS MEHR ZU FRAGEN!

Eines Morgens blieb der Stuhl von Old Lady leer. Rolf schaute fragend zu Giuseppina. Die zuckte nur die Schultern. Als der Sessel am vierten Tag immer noch verwaist war, erkundigte er sich nach der Adresse.

«Im Hochhaus, hinter dem Park…», sagte Giuseppina.

Vor ihrer Türe hört Rolf das leise Winseln des Hundes.

Die Polizei brach die Türe auf.

Der Hund sass auf dem Schoss von Old Lady. Deren Kopf lag etwas schräg im Sessel. Und ihre blutroten Lippen lächelten fein. Fast glücklich.

Ein Lächeln, wie es Rolf bei ihr nie gesehen hatte.

Eine Minute lang nahm Rolf Abschied von dem Gesicht, das auch im Tod noch eine Faszination ausstrahlte.

Dann sagte er: «Komm!»

Mit einem Satz hüpfte das Haartoupet vom Schoss der Old Lady. Es wedelte zu Rolf, der ihm eine Wurststange entgegenstreckte: «Langsam kauen – Hercule!»

Von wegen Hundetreue!

Montag, 28. April 2014