Hühneraugen

Zuerst wars ein zarter, sanfter Schmerz. WEHWOHL.
Das Wort «wehwohl» benutzt mein physiotherapeutender Vetter, wenn er seine Pranken wie zwei Hartgummispaten in den Nacken der Patienten knallt: «Zuerst tuts weh. Dann wohl...» WEH DEM, DERS GLAUBT. Wohl tuts nur dem sadistischen Vetter!
Doch genug geklagt. Wenden wir uns dem Thema des Tages zu. Dieses hat Schuhgrösse 43. Und schmerzt.

Mein Fuss hatte schon seit Tagen in einem leisen Grimmen vor sich hingelitten, als der mittlere Zeh ganz plötzlich wild zu pochen begann. Ich rief nach einem Taxi. Innocent bekam Flöhe: «Jetzt sei doch kein Weichei!»
Dann habe ich mitten auf dem Marktplatz meinen rechten Golfer ausgezogen. Und Innocent machte gleich eine Oper daraus: «Ach Gottchen, fängt dieses Theater wieder an? Für einmal hast du nicht deine Karre unterm Hintern und schon brichst du zusammen...
Er hat nicht «Hintern» gesagt. Er benutzte ein einsilbiges Wort.
Ich rolle also die Socke von den Zehen - da grinste es mir zu: rotleuchtend wie eine Verkehrsampel auf STOP: EIN HÜHNERAUGE.

Punkto Hühneraugen habe ich bis heute keine Erfahrungen gehabt - nur Erinnerungen.
Bei der Kembserweg-Omi gabs immer irgendwelche von diesen unangenehmen warzenähnlichen Dingern. Die Omi weichte vor der Operation «made in Kembserweg» ihre Zehen in einem Becken mit Essigwasser flauschig. Dann griff sie zu Vaters Rasierklinge. Sie säbelte am Übel wie der Churer Albi am Bündnerfleisch. Schon blutete das Ganze wie eine abgestochene Sau.

Gespannt wartete ich jeweils, bis die Omi mit einem leisen Pfeifen zusammensackte - Mutter holte sie mit Eiswickeln und Melissengeist fauchend in diese Welt zurück: «Was musst du dir deine Hühneraugen auch selber operieren... Du weisst doch, dass du kein Blut sehen kannst. ES GIBT FACHKRÄFTE!»
Die Omi schniefte: «Weisst du, was die kosten! - unsereins will wenigstens so viel Geld hinterlassen, dass ihr mir eine anständige Beerdigung bezahlen könnt!»

Als dieselbe kam, verkündete Onkel Alphonse pathetisch vor dem offenen Grab: «Die Gute hat ihre Hühneraugen für immer geschlossen...» Am Leichenmahl wurde noch lange über diesen Fauxpas gesprochen und auch darüber, was gegen Hühneraugen am wirksamsten sei. Die einen schworen auf «Lebewohl» und Tante Mizzi behauptete, das Ganze stecke in den Genen.

«Clavi!», nickte mein Apotheker Müller, als ich ihm den Fuss hinstreckte. «Das ist der lateinische Ausdruck für Hühnerauge. Wichtig ist, dass die Wurzel entfernt wird und...» Müller hielt einen kurzen Moment inne. Dann schaute er mich strafend an: «Bei ihren breiten Plattfüssen und diesen engen Schuhen muss sich weiss Gott keiner wundern, dass ihre Zehen die Augen verdrehen...!»
«Lebewohl!» fauchte ich. Und: «Adieu!»

Zur Pedicure habe ich mir ein Taxi geleistet. Der Taxichauffeur öffnete mitleidig die Türe, als ich angehumpelt kam: «Da können Sie gar nichts dagegen machen - das steckt in den Genen!» Dann schaltete er die Uhr ein.
Meine Abdankung wird dereinst wohl nicht im selben üppigen Rahmen wie bei der Omi stattfinden.

Montag, 25. April 2005