Schmusekater

Ilse zögerte. Das Inserat war viel versprechend. Aber das waren ja alle. Die Wirklichkeit: SCHUTT UND GRÖLL.
Er hatte sich den Titel «VERSCHMUSTER KATER» gegeben. Genauer: «VERSCHMUSTER KATER sucht liebevolles Kätzchen, das mit ihm die Milch teilt.»

«Nicht sehr originell», dachte Ilse. Aber immer noch besser als «HEISSER HENGST SUCHT EBENSOLCHE STUTE». Diese Anzeige stand unter dem verschmusten Kater.
Der Hengst ist verwitwet. Er sucht ein gut situiertes Partnerross, mit dem er andere Pferde stehlen könne.
«Klarer Fall von übersextem Gigolo!», murmelte Ilse. Dann kehrte sie zum verschmusten Kater zurück.

Dieser hatte dummerweise sein Alter nicht angegeben. Nur seine Hobbys: Wandern, Briefmarken und Opern. Dann die BOX-Nummer 69 mit dem Schnörkel: Über ein liebes Briefli mit Bildli würde ich mich sehr freuen - ALLES WIRD BEANTWORTET.
«Ilse war nicht der Operntyp. Sie hasste dieses Geschrei zu den Geigen. Sie war überhaupt nicht sonderlich musisch. Ihr verstorbener Mann hatte ihr einmal vorgeworfen: «Du bist so kulturlos wie ein Trockendock.» Das hatte sie gekränkt. Aber sie hatte nichts gesagt. So wie sie all die 35 Ehejahre geschwiegen hatte.

Sie schwieg auch, als Eugen an jenem frühen Morgen verzweifelt «Luft, Luft!» keuchte. Dann war er ins Kissen zurückgesunken. Die Augen standen weit offen - der Atem ging nicht mehr. Und «das wars dann wohl», sagte Ilse.

Der «Schmusekater» schnurrte ganze drei Tage lang in Hildes Ganglien herum. Wann war sie das letzte Mal von jemandem in die Arme genommen worden? 20 Jahre? Nein - 30 Jahre? Es wäre schön, wieder mal wie eine Katze schnurren zu können.
Und so schrieb Ilse an BOX 69: «Liebesbedürftiges Kätzchen möchte schnurren». Sie schob das Foto hinzu, das sie mit lustigem Spitzhut zeigte und an einem Kindergeburtstag ihrer Nichte Nelly mit der ersten Polaroid geschossen worden war. Nelly war nun auch 32.

Der Kater schmuste ihr brieflich dann das Herz voll. Er sehne sich nach einer lieben Frauenhand. Sein «Muttilein» sei viel zu früh von ihm gegangen.
«Gegangen?», fragte sich Ilse doch etwas beunruhigt. Hiess das gestorben? Oder hiess das: Muttilein hatte die Nase voll und ihre Koffer gepackt?
Das Foto, das er beigelegt hatte, zeigte einen dicklichen, fröhlichen Glatzkopf vor dem Zürcher Opernhaus - allerdings vor dessen Renovation.

«Einmal wieder in die Arme genommen werden!» dachte Ilse. Und buchte für den Tag des Rendez-vous Coiffeur («leichte Tönung») und Kosmetikerin («Es gibt doch da so Spritzen...»). Sie stichelte die rote Gerbera (Erkennungszeichen) an das Revers. Und schaute dann mit klopfendem Herzen in das kleine Café, wo der Kater schnurren sollte.
Das Café war jedoch leer. KEIN KATER WEIT UND BREIT. Das Biest hatte sich verspätet. Da war nur ein alter Mann, der in einer Illu blätterte und sich mit schwulstigen Karpfenlippen einen Nussgipfel reinmümmelte.

Ilse wollte schon das Café betreten, als sie die Gerbera am abgewetzten Kittel des Dicken entdeckte - und auch den Titel der Zeitschrift: «OPERNBLATT».
Erschrocken zupfte sie die Gerbera vom Revers, machte kehrt und sagte dasselbe wie damals zu ihrem Mann, als der tot in die Kissen fiel: «Das wars dann wohl!»

Montag, 24. Oktober 2005