Kunst

Ich bin mit Kunst aufgewachsen. Da ist nix gegen zu sagen.
Jedenfalls: Es hat mir nicht geschadet. Und obwohl ich das Mädchen, das da eine Eidechse auf dem sonnenbeschienenen Fels betrachtete, nett fand, hat mich das Werk in Öl nicht sonderlich geprägt.

«Das Mädchen mit der Eidechse» war Mutters Lieblingsbild. Vater stand auf «Flammender Berg». Ein ziemlich öder Schinken: Felsen. Felsen. Nichts als Felsen.
Ok. Die Sonne hatte eine rosige Glut in die steilen Wände gezaubert. Die unteren drei Zentimeter des Bildes waren ein Streifen Magerwiese mit drei, vier Blümlein drin. UND DAFÜR HABEN MEINE ALTEN JEDEN MONAT FAST 20 FRANKEN AN DIE KUNST ABGESTOTTERT.
Der Trämlerlohn war nicht für Werke wie Chagall oder Rubens geschaffen, obwohl Vater von letzterem in höchsten Tönen schwärmte: «Was für Formen - da sind Weiber noch Weiber.»
Mutter hingegen war Toteninsel-geschädigt: «So etwas kommt mir nicht ins Haus!», erklärte sie kategorisch, als Oma nach dem Tode ihres Gemahls den trauerschwarz gerahmten Druck über dem Bett abhing und ihrer Tochter «die Reise nach drüben» (wie sie das Bild deutete) vermachen wollte.
Die Oma nahm Mutters Abfuhr ziemlich krumm und wäffelte: «Ja, wenn man sich mit einem Trämlerlohn Besseres an die Wände schaffen kann!»
Daraufhin liess Mutter den Vertreter der Kunstgilde kommen. Der hatte auf Dias einiges anzubieten. Die meisten Bilder überstiegen allerdings das Kulturbudget der Familie. «Sie können den röhrenden Hirschen jetzt haben - und 24-mal Fr. 9.95 Ende Monat abbezahlen», erbot sich Kunsthändler Hämmerli.
Herr Hämmerli von der Kunstgilde war ein feiner Mann. Er lobte Mutters guten Geschmack, weil diese höhnte, den röhrenden Hirsch habe schon Tante Daisy über dem Buffet hängen. Und bestimmt habe das Tier mit dem offenen Mund den Onkel zum Suff animiert. Nein. Sie wolle etwas Dramatisches.
Das war dann «das Mädchen mit der Eidechse». 24-mal Fr. 9.60.
Vaters Berge kamen preiswerter, weil - wie Herr Hämmerli kundig fachsimpelte - Berge im Abendrot einfacher zu malen wären, als eine äsende Hirschfamilie, wo die Beine das Schwierigste in der Malerei überhaupt seien.
Vater nahm also die flammenden Berge zu 24-mal Fr. 8.10.
Keiner fragte das Kind nach seiner Kunstneigung. Es wurde zur Blockflöte verurteilt. Das war auch Kultur. Und Fr. 1.20 die Stunde.
Zur Konfirmation bekam ich dann mein erstes richtiges Kunstwerk - einen Waggis aus Keramik, der auf die Trommel hieb. Ich spürte das innere Beben: HIER WAR KULTUR!
Auch Mutter hatte in ihrer Kunstentwicklung Fortschritte gemacht. Das Eidechsen-Mädchen wurde gegen einen selbst gestickten Gobelin eingetauscht. Als sie die «Herbst-rose», wie sie «mein kleines Werk» nannte, an einem Cocktail mit Freunden enthüllte, wurde sie allgemein beglückwünscht. «Ach Lotti, in dir steckt ja eine Künstlerin... wer hätte das gedacht!»
Bestimmt niemand.
Ich will nicht hadern. Natürlich hat sich der Kunstsinn der Menschen entwickelt. Im Zeitalter der Überhitzung ist uns die Sonne eh schon ein Dorn im Auge. Sie gehört nicht mehr an die Berge gemalt. Aber manchmal frage ich mich doch: WAS SOLL DIESES GEBOGENE STÜCK METALL MIT DEM TITEL «UNIVERSUM XY».
Der röhrende Hirsch war tausend Mal preiswerter. Und dabei wissen wir Kunstkenner doch, dass nichts so schwierig zu malen ist, wie das Bein eines Hirschen.

Montag, 18. Juni 2007