Graues Grauen

Als Innocent sein Drei-Minuten-Ei in pingeligen Kurzschlägen mit dem Messerrand rundum beklopfte, als er den Deckel abhob und sein Weissbrot ins Gelbe vom Ei eintauchte, wie er dann auch noch genüsslich das weisse Geschluder reinsog und an der verdotterten Zopfkante rumnuggelte, da schaute er mich über all das Geköpfte kritisch an und unterbrach sein Geschlabber: «Du wirst grau, mein Lieber!»

DAS IST NUN ABER WIRKLICH DAS LETZTE DREI-MINUTEN-EI, DAS ICH IHM GEKOCHT HABE!

Ich jage ins Badezimmer. Stiere in den Spiegel. Und hier ist das totale Grauen: 23 graue Haare vorne. 42 an den Schläfen. Und der Schnauz sieht auch schon aus, als hätte es darauf geschneit.
Am Tisch schiebt sich Innocent das Restei rein und mümmelt durchs Weichbrot: «Iss ganz natürlich... die einen werden im Alter weiss. Die andern weise... haha.» Den Spruch hat er sicher wieder von dieser Peach-Weber-Platte, aber ich gönne ihm den Genuss der Betroffenheit nicht. Deshalb: «... und um die Dritten weht immer dieser Geruch von Verwesung. Wann hast du das letzte Mal geduscht? Und vergiss nicht vor dem Einseifen die Hörapparate rauszunehmen. Sonst hast du wieder Kurzschluss.»
Das war nicht von Peach Weber. Das war meine Frustration.
Ich liess Innocent mit offenem Mund vor seinem leeren Ei hocken. Und ging schnurstracks zu Pino.

«Du musst mich umwaschen. Es gibt doch im Fernsehen irgend so eine Reklame, wo ein ergrauter Mann nach einem einzigen Haarwasch auf wunderbare Weise seine dunkle Mähne zurückbekommt. Das will ich auch. GENAU DAS!» Pino seufzte: «Du hast Sorgen!»

Ok. Er hat andere. Pino ist kahl wie das oben erwähnte Drei-Minuten-Ei. Jedem seiner Kunden verteilt der Figaro stumm Fotos, auf denen er an einer Gitarre rumzupft und sein schulterlanges Haar ihm dabei ins Gesicht fällt. Ein bisschen sieht er aus wie Nana Mouskouri auf ihrer Abschiedstournee.
«Das war ein Zopf!», seufzt er und zupft mir das Farbfoto aus den Fingern.

«Das war vor 40 Jahren!», hole ich ihn in die kahle Realität zurück. Irritiert fährt er nun mit seinen Fingern durch meine ergrauten Locken: «Na ja - das mit der Farbe habe ich noch nie gemacht. Die Firma hat mir zwar ein Muster geschickt und...» Zehn Minuten später schäumte das Muster auf meinem Haar.
«Man muss es wohl etwas einwirken lassen», meinte Pino, «dummerweise habe ich die Gebrauchsanweisung bereits fortgeschmissen!»

Auf meinem Kopf zischte und blubberte es, wie bei Harry Potter, wenn die Besen starten. Als dann vom Geblubber auf meinen Cashmere-Pullover fiel, klaffte hier sofort ein tassengrosses Loch.
«Oh», sagte Pino.
«Oh» sagte ich.
Dann spülten wir den grünlichen Schaum hurtig herunter. Unter dem starken Wind des Föhns kam es dann ans Licht: RÜBENROT. Die ganze Rübe rübenrot.
«Vielleicht ein Gen-Fehler?», orakelte Pino.
Heulend ging ich in die nächste Apotheke und liess mir den Kopf einbandagieren.

Als ich Innocent so verbunden am Frühstück vis-à-vis sass, schaute er mitleidig von der Zeitung auf: «... und du musst wirklich zwei Monate lang diesen Mumienverband tragen, nur weil sich eine Hornisse in deinem Haar verfangen hat? Immerhin hat das Biest guten Geschmack gezeigt. Deine grauen Schläfen sehen wirklich heiss aus.»
Da habe ich ihm halt doch wieder ein Drei-Minuten-Ei gekocht.

Montag, 12. September 2005