Das Christkind

Das kleine Kind im schäbigen Kleid öffnete zaghaft das Fenster. Dann hievte es sich mit der Eleganz einer Katze auf den Sims. Und brach in die Wohnung ein.
Heiliger Abend war ein guter Morgen zum Einbrechen. Alle hatten den Kopf bei Geschenken, Kochen und Baumschmücken.
Das kleine Mädchen lächelte leise - in der letzten Wohnung hatte es die Schmuckkassette gleich neben einer Blechdose, die gerammelt voll mit verschiedensten Weihnachtsgutzi gewesen war, gefunden. Es hatte bei beiden zugegriffen.
Das Kind spähte in die Wohnung. Es konzentrierte sich auf Geräusche. Totenstille. Kein Mensch weit und breit - freie Bahn also. Auch hier lag der Schmuck in der obersten Schublade der Schlafzimmerkommode. Hastig steckte es verschiedene Kettchen, Ohrgehänge und Broschen ein - es wollte sich eben davonstehlen, als eine hohe, dünne Stimme die Stille unterbrach: «Bist du das Christkind?»
Das kleine Mädchen schreckte auf. Es schaute in die Richtung, wo die Stimme herkam - da sah es ein Kind im Bett liegen, ein Kind mit wunderschönen, grossen Augen, einem Gesicht wie weisses Porzellan und feinen blauen Äderchen, die sich wie hauchdünne Flüsschen über einem haarlosen Kopf verteilten.
Das Kind winkte: «Ich habe auf dich gewartet. Sie sagen mir zwar immer, es gebe dich gar nicht - aber ich wusste, dass du zu mir kommst. Ich habe es mir so sehr gewünscht.»
Das kleine Mädchen schob den Goldschmuck hastig in die Schublade zurück. Dann ging es zum grossen Bett, wo das kleine Wesen lag. «Ich bin krank», lächelte es.«Ich hatte eine schlechte Nacht? konnte kaum mehr atmen. Meine Eltern sind zum Arzt gefahren? sie werden bald hier sein?»
Die grossen Augen taxierten das schmutzige Kleidchen. Geniert wischte sich die kleine Einbrecherin die Hände am Kleid ab. «Genau so habe ich mir dich immer vorgestellt», flüsterte das kranke Kind. «Es ist schön, dass ich dich jetzt kenne, wenn ich dann zu dir kommen darf?»
Das kleine Mädchen spürte plötzlich ein Glücksgefühl in sich. Es streckte seine Hand aus. Und streichelte den zarten, haarlosen Kopf. Das Kind hatte Fieber, hohes Fieber.
Spontan griff es in seine Tasche. Und zog eine kleine Goldkette hervor. An der Kette hing ein kleines Medaillon mit blutrotfunkelnden Rubinen - und einem E-Mail-Bildchen, welches das frisch geborene Jesuskind in den Armen seiner Mutter zeigte.
«Hier», flüsterte das Mädchen. Und spürte die Hitze des Kindes in seinen kalten Händen.
Das Kind spielte mit der goldenen Kette und schaute sich das Bild mit dem Jesuskind an: «Es ist wunderschön. Ich habe noch nie so etwas Wunderschönes bekommen - ich bin auch plötzlich gar nicht mehr müde?»
Draussen hörte man Schritte und einen Schlüssel, der sich im Schloss drehte.
«Ich muss gehen», flüsterte das kleine Mädchen, «aber ich bin immer bei dir? ich warte auf dich.»
Hastig schlüpfte es aus dem Zimmer zum Fenster, das nach draussen führte.
Als die Eltern das Schlafzimmer betraten, fanden sie ihr Kind ruhig. Und mit einem verträumten Lächeln: «Das Christkind war hier - es wartet auf mich!».
Die Mutter der kleinen Einbrecherin erwartete ihr Töchterchen ungeduldig: «Und? Gabs was zu holen?!»
Die Kleine nahm ihre Hand: «Nein. Es ist Weihnachten - wir sollten jetzt nach Hause gehen?»
Die Menschen hasteten an ihnen vorbei und merkten nicht, dass das Christkind mitten unter ihnen war?

Montag, 11. Dezember 2006