Canzoni

Die Leute lachten. Redeten durcheinander. Drehten ihre Spaghetti auf die Gabel.
Es war ein warmer Römer Abend. Und man genoss es, im Freien zu essen.
Keiner beachtete den alten Mann, der an einer Mandoline herumfingerte. Und mit eher kläglichem Stimmmaterial das Lied der «Santa Lucia» anstimmte.
Endlich schaute einer der Gäste auf. Es war ein Tourist aus Wanne-Eikel. Er winkte den alten Sänger zu sich. Und lallte im Vollrausch: «Hier ein Euro? und wenn du mit dem Gekrächze endlich aufhörst, bezahle ich dir noch einen!»
DAS WAR DER MOMENT, ALS MAURO BESCHLOSS, NIE MEHR ZU SINGEN!
Singen war sein Leben gewesen. Er kannte nichts anderes. KONNTE NICHTS ANDERES.
Schon als junger Mann war er mit der Mandoline durch die Lokale von Rom gezogen. «Santa Lucia» war der absolute Hit gewesen. Immer. Als Pipo ihn dann begleitete, spendeten die Leute üppig. Sie liebten den Jungen. Und dessen hell dahin­geschmettertes «Mammmaaa».
Mauro war stolz auf seinen Sohn.
Mit 16 ging Pipo eigenen Wege: «Ist alles Scheisse, Papa. Italienische Honighymnen will keiner mehr hören. Harter Sound ist gefragt. Metallene, messerscharfe Töne?»
Pipo wollte in Amerika sein Glück versuchen. Der Vater weinte. Er drückte ihm das wenig Ersparte und eine Mandoline in die Hand: «VERGISS DORT DRÜBEN UNSERE CANZONI NICHT!»
Es war an einem Maiabend, als Mauros Stimme bei «Santa Lucia» erstmals brach. Für einen Moment schauten die Leute von den Tellern auf. Nur kurz. Dann assen sie weiter. Und beachteten ihn nicht.
Er passte das Repertoire nun seiner dünnen Stimme an. Doch bald war nur noch das Zupfen auf der Mandoline zu hören. Und ein heiseres, dahingeflüstertes Krächzen.
Die Menschen warfen jetzt Mauro aus Mitleid eine Münze in den Hut. Das war demütigend. Es schmerzte mehr, als wenn sie den Kopf schüttelten. Und nichts gaben.
Schliesslich kam dieser besoffene Arsch mit seinem Euro? und der Aufforderung aufzuhören.
SCHLUSS. DAS WARS.
Mauro verliess nun seine Kammer kaum mehr. Er las Tag und Nacht. Immer dasselbe Buch. Da er alles schnell zu vergessen begann, spielte es keine Rolle.
Eines Tages hämmerte seine Nachbarin an die Türe: «Mauro? PIPO IST IM FERNSEHEN. KOMM SCHNELL!»
Der Alte sah, wie jemand seinen Sohn umarmte. «Er hat für seinen Song «GREY LOVE» einen Nachwuchs-Emmy gewonnen», jubelte die Nachbarin.
Mauro verstand gar nichts. Erst als Pipo in die Kamera schaute und so den Menschen in die Augen sah, als er da in dieser seltsamen Sprache «I thank to my band and my producer?» redete und sich ganz plötzlich direkt an ihn wandte: «Grazie, Papa??», da weinte Mauro wie damals, als er seinen Sohn verloren hatte.
Auf dem Bildschirm sah man nun den jungen Sänger, wie er eine Mandoline hervorholte. Und in die Stuben der Menschen lächelte: «Nostra canzone, Papa!»
Dann sang Mauro «Mamma».
Ganz alleine für Papa.
Nach der Emmy-Verleihung bestellte der Produzent seinen frisch geborenen Star von «GREY LOVE» zu sich. Er schob ihm einen zweiten Vertrag zu.
Die sofort produzierte CD von «Mamma» blieb sieben Monate in den US-Charts. Und das spätere Album «PIPO? SANTA LUCIA» wurde 1,5 Millionen Mal verkauft.
«GREY LOVE» fiel bereits nach drei Wochen aus den Hitparaden.

Montag, 27. Mai 2013