Bergdohlen

Sie sind schwarz wie Teer. Rabenschwarz.
Nein. Diese Bezeichnung trifft es nicht. Denn es sind Dohlen - Alpendohlen. Auf Lateinisch: pyrrhocoraces graculi. (Beten wir zu den Himmlischen, dass ich es richtig in den Plural gesetzt habe, und kein Klugscheisser Vögel bekommt - vergelts Gott).
Hier in Adelboden am Fusse des Wildstrubels und im Schatten des Lohners heissen die Vögel: Bergdohlen.
Die Bergdohlen waren die Freunde meines Vaters. Seelenverwandte.
Kaum, dass die Sonne erste warme Sonnenstrahlen ins Frutigtal schickt, fliegen die Vögel nämlich davon. Bergwärts. Genau wie mein Vater es immer tat.
Oft hat er sie in ihren Bergwänden besucht: «Sie bauen in den schmalen Spalten ihre Nester...»
Während mein lieber Vater hemmungslos seinen einzigen Sohn züchtigen konnte, schlug sein Herz voll Erbarmen für die Dohlen. Er packte das gesammelte alte Brot, und kraxelte in die Bergwände, um seine schwarzen Vögel zu füttern.
Mutter bekam auch solche: «Hans, dir ist wirklich nicht mehr zu helfen. Die haben im Sommer genug zu picken...»
Vater schaute zum Berg: «Sie können bei diesem Wetter ihre Nester nicht verlassen. Heute Nacht haben sie mich gerufen...»
Im Winter warteten die Vögel jeweils auf ihn. Stundenlang stierten sie in den Ästen des Apfelbaums zu unserer Chalettüre.
Der Apfelbaum steht in der riesigen Weide, einen Ballwurf von unserm Garten entfernt.
Wenn sich die Türe öffnete und Vater, trämlerpünktlich um fünf Uhr abends mit den Brotwürfeln erschien, erhob sich eine schwarze Wolke über der zugeschneiten Matte auf dem Kuonisbergli.
Er warf den Vögeln die Brotbrocken und Käserinden in den Schnee. Und Mutter schaute mich vielsagend an: «Gestern habe ich ihn wieder dabei erwischt, wie er beim Michel einen Zweier Weissbrot zusätzlich gekauft hat. Alles nur, weils zu wenig Resten für die Vögel hatte...»
Im leinernen «Brotsack» wurden Weggliresten und Käserinden gesammelt. Unsere Nachbarn schleppten vergammelte Pfünderli und angefaulte Kartoffeln an - Vater setzte sich mit unendlicher Geduld an den Tisch. Und schnitt jeden Tag seine Würfel für die Vögel.
Wenn ich in Basel Einladungen hatte, stand er am andern Tag vor der Türe: «Hast du Brot- oder Käseresten?»
Er packte sie ein. Transportierte sie nach Adelboden. Und warf sie um fünf Uhr abends auf die Weide.
Als er im Dezember zum letzten Mal das Brot in den Schnee warf, seine Sachen zusammenpackte und wusste, dass er die schwarzen Freunde für immer verlassen musste, da warteten die Vögel danach noch wochenlang in den Ästen auf ihn. Sie schauten stumm zur Türe, die sich nie mehr für sie öffnen sollte.
Wie ich nun gestern im Gartenschuppen nach einem Rechen suchte, entdeckte ich auf einem Schaft ein halbes, steinhartes Pfund Brot. Vater muss es hier vergessen haben.
Ich setzte mich an den Tisch. Und schnitt Würfel. «Blödsinn», sagte Innocent. «Im Sommer sind die Vögel in den Bergen...»
Ich warf das Brot auf die Weide.
Und vom Apfelbaum-Ast flog plötzlich ein schwarzer Vogel auf. Eine einzige Dohle nur.
Sie pickte sich einen der Brotbrocken. Und zog einen weiten Kreis um unser Haus.
Dann flog sie davon. Bergwärts.

Montag, 24. Juli 2006