«Was is Daig?»

Heinrich drückte den Klingelknopf.
Er drückte ihn schon zum fünften Mal.
«Ist das hier eigentlich ein Wartesaal», krächzte er nun über den weiss gedeckten Mittagstisch.
Es hatte Suppenfleisch gegeben. Es gab an einem Montag stets Suppenfleisch. Der Arzt hatte ihm zwar solches verboten. Doch Heinrich liess das Verbot mit einem höhnischen Auflachen platzen:
«Ich esse das jetzt seit 95 Jahren, Sie Windelkacker! Es hat mich noch nicht umgebracht.»
Endlich kam Samir.
Heinrich rümpfte die Nase, als er das Mao-T-Shirt des Dieners sah: «Früher hatten die Hausmädchen weisse Häubchen und schwarze Röcke. VOR ALLEM ABER HÖRTEN SIE, WENN MAN IHNEN LÄUTETE...»
Samir grinste: «Jawollll? Sör Aiggi! Ich Silber putz.»
Den Namen «Paravicini» hat sich Samir nie merken können. Schon gar nicht «Praawezi», wie die Verwandtschaft sich phonetisch ankündigte. Als aber Heinrichs Cousine (die Base Luggi Merian) vom Wenkenhügel herunterwackelte, um den Alten zum 95. in der Dalbe zu besuchen, als sie ihm ein Säcklein mit Lindenblüten als Geschenk mitbrachte («sälber glääse, Vetter!») und den Cousin immerfort «Haiggi» nannte, da strahlte Samir plötzlich. Und meldete sich am Abend beim Klingeln der Tischglocke: «JAWOLL? SÖR AIGGI!»
So blieb es dabei.
Samir betreute den Alten so gut, wie es ging. Das war nicht immer einfach. Denn Sir Haiggi sammelte wohl zartestes Meissen (vor allem 17. Jahrhundert), hatte aber einen Schädel aus Beton.
Samir war angestellt worden, nachdem Erna, die Hausperle des Majors, beim Servieren eines Rehrückens zusammengebrochen war. Das Reh war (wie Haiggi später im Jagdkreis herumbot) etwas «zu frisch und gar nicht recht gelagert» gewesen? Erna hingegen hatte über 70 Jahre bei den Paravicinis gedient. Und bei ihrem abrupten Abgang 89 Lenze auf dem Tacho.
«Sie war noch blutjung...», gab Haiggi etwas ratlos die schwarze Nachricht an Miggeli Wackernagel, seine Lieblingsnichte, durch.
Es war nicht so, dass Herr Paravicini die Zeichen der Zeit nicht erkannt hätte. Er wusste, dass seine Leute nicht mehr «entre nous» waren. Selbst die Königshäuser heirateten jetzt unter dem Gürtel (wie er es nannte). Und er war fast stolz darauf, als sein Grossneffe im linksten Lager der Stadt auf der Grossratsliste stand.
ABER ES GING EINFACH NICHT AN, DASS EIN TAMILE SEINEN SILBERNEN JAGDBECHER MIT STAHLWOLLE PUTZTE!
«Me macht das mit eme Limpli... nit mit Stahlwulle! »
«JAWOLL, SÖR AIGGI!»
Da schellte das Telefon. Artig reichte der Diener dem Alten den Hörer. Bald schon hörte er Sir Heinrich brüllen: «Sie sind jetzt diese Woche schon der Sechste, der sich bei mir nach dem Basler Daig erkundigt. WAS SOLL DIESER MIST!
ES GIBT KEINEN BASLER DAIG!»
«Ach so?», sagt die Stimme im Hörer.
«Das ist eine Erfindung von euch Medienheinis. EIN DAIG EXISTIERT NUR BEI DEN ANDEREN...»
«Dafür, dass er nicht existiert, wird aber etwas viel darüber geschrieben...», hüstelt die Stimme.
«DAS IST IHR PROBLEM!»
Heinrich donnerte den Hörer auf die Gabel.
«WAS IS DAIG?», schaute ihn Samir gross an.
Der Major zog eine alte Socke aus der Restenschublade:
«Doooo? mit eme Limpli
Und so werden Samir, die Weltpresse und wir alle nie erfahren, was und wer der Daig eigentlich ist... Aber wir wissen nun, dass man Silber mit einer alten Socke poliert.
Das ist ja auch nicht nichts (wie Herr Paravicini sagen würde).

Montag, 11. Juni 2012