Von Shakespeare auf der Insel und dem Stinkefinger

Donnerstag - Anna, die im ganzen Ort nur die «Eier-Anna» genannt wird, weil sie hinter ihrer kleinen Hütte auf dem silbernen Hügel etwa 100 Hühner hält und jedem Touristen stundenfrische Eier («da bere!») garantiert - Eier-Anna also, die ansonsten sehr auf ihr schönes seidenes Haar achtet, rannte an jenem Donnerstagmorgen mit verfilzten Strähnen und verheulten Augen durch die Gassen des Hafenortes: «Sie ist weg? dieser verfluchte Hund hat sie entführt? mögen seine Eier kochen und seiner Familie die Masern am Arsch blühen!»
Das ist die Sprache der Eierfrau.
Es ist auch die Sprache dieser Insel, wo Handys keinen Empfang und die abgehackten Sätze per SMS keine Chance haben.
Beim schrillen Geschrei, das Anna vor der Bar Centrale loslegte, gings um ihre Tochter Lara. Diese hat sich in Umberto vergafft.
Soweit.
So gut.
Nur dass Umberto bei der falschen Mannschaft rudert. Und was in der grossen Stadt Rom die Familiendramen zwischen Lazio-Anhängern und den Tifosi des AS Roma ausmachen, sind auf der kleinen Inselwelt die Feindseligkeiten zwischen den «Ercolesi» (blau) und den «Leoni» (grün).
Lara und Umberto hatten sich im heissen Juli in einer Open-Air-Disco auf der Lagune von Orbetello kennengelernt. Der Ort liegt zwischen den konkurrenzierenden Hafenorten Ercole und Santo Stefano - auf neutralem Boden also.
Die beiden Jugendlichen haben nach zehn Mal heisser Salsa und einem Schmuse-Rock nicht lange gefackelt: ab in die Dünen!
Weil Umberto aber ein umsichtiger Mann ist und Lara nicht sein erstes Abenteuer war, hatte er jeden Schutz gegen diese gefährliche Liebeswelt dabei. Lara wiederum zauberte aus dem Kofferraum ihres Cinquecento eine Wolldecke hervor. Auch sie hatte schon einiges hinter sich. Diesmal also Umberto.
Natürlich waren sich beide klar, dass ihre Affäre, würde die Sache erst mal publik werden, ziemlich Probleme mit sich bringen würde. Umberto war zweiter Ruderer auf dem Regatten-Boot der «Ercolani». Ugo, der älteste Bruder von Lara war - seit der Ehemann der guten Eier-Anna sich an drei Flaschen hausgemachtem Eier-Lemoncello zu Tode gesoffen hatte - die Respektsperson der Sippe. Ugo also trainierte vier Mal die Woche die Ruderer der Leoni, auf dass sie endlich wieder einmal den Pokal an der Ortsrivalen-Regatta zurückholen könnten?
Was Shakespeare mit Romeo und Julia in Szene gesetzt hat, ist noch lange nicht ad acta gelegt. Jedenfalls gab es auf der Insel viel zu reden, als Lara und Umberto auch nach vier Wochen noch Händchen hielten und die Dünen aufsuchten.
Beide Familien machten voll auf Drama, beschworen die Verliebten bei der Ehre ihrer Ahnen diese Mésalliance zu beenden. Und als Ugo seine Schwester schliesslich in deren Zimmer einschloss, konnte Umberto nicht anders: Er liess sich mit dem Baukran seiner Firma, welche die Strassenlampen der Inseln kontrolliert, am Fenster der Gespielin hochzurren. Und ab gings - weg!
Wochenlang wartete man auf irgendeine Nachricht der beiden. Wenn Padre Giovanni anfangs am Altar noch von Sünde und Schande gepredigt hatte, so schloss er in der sechsten Woche die beiden Entflohenen ins Gebet der Gemeinde ein: «? und möge ER ein Unglück verhüten und Seine schützende Hand über die Verirrten halten.»
Längst munkelte man - nachdem Gustavo Bertrucci, der Schullehrer der Insel den Jungen die Geschichte von Romeo und Julia als Hausaufgabe zum Lesen gegeben hatte und diese dann schockiert ihren Alten berichteten, der Stoff sei noch besser als «Sex in the City» und am Ende käme der Tod. Angestachelt von Shakespeare also munkelte man vom gewählten Freitod der beiden. Geeint im Unglück trafen sich die verfehdeten Familien in der Kirchenstube des Padre und Eier-Anna rief sechs Mal täglich Ugo an, ob er nichts von den beiden gehört habe.
Eine Postkarte aus Miami, wo Umberto eine Stelle als Kranführer gefunden hatte und Lara die Fritten in einem «Burger King» aus dem Öl zog, brachte das ersehnte Aufatmen.
Die Postkarte zeigte allerdings nur das, was man in Italien den Stinkefinger nennt. Aber immerhin.
Padre Giovanni redete in seiner Predigt von der «glücklichen Fügung» und «Seinen wunderbaren Wegen?»

Donnerstag, 5. Oktober 2006