Von 100000 Chinesen und falschem Schnee mit Krokus

Donnerstag - Mitten in der Nacht schrecke ich auf.
DIE CHINESEN KOMMEN!
Schon als Kind hat mir die Kembserweg-Omi immer wieder eingepaukt: «Die grosse Gefahr dieser Welt ist nicht Deine andere Grossmutter. Und auch nicht das Cholesterin in der Cremeschnitte. Die grosse Gefahr ist der Chinese!»
Mutter relativierte dann solche Äusserungen spitz: «Ich kenne eine Zeitbombe, die am Kembserweg tickt und die Milchbrocken so laut reinschlürft, dass die Erde bebt...»
Trotzdem - als die Sowjetuniönler keine Angriffsfläche mehr boten und nun fast schon zaristische Allüren neu gelebt werden (man nennt sie in Russland nicht die Neureichen, sondern die Frisch-Zaren), als der Russe also aus der politischen Angriffslinie unserer westlichen Hemisphäre verschwand, da sahen wir rot bei gelb.
ES BLIEB UNS NUR NOCH DER CHINESE. UND SEIN LÄCHELN ZUM FEIND.
«Sie tragen diese Zöpfe und blattflache Finken - OHNE ABSÄTZE. Und sie säbeln unartigen Kindern den Kopf ab!», das war die Omi.
Die Kembserweg-Omi war in den 50er-Jahren das, was man heute Horrorfilm nennt.
«Hör? auf mit diesem Mist!», nervte sich die Schwiegertochter. Sie schoss Omi einen Blick zu, der dolchiger war als das Schwert des Chinesen. «Sie haben dann wieder Albträume, und ich kann ihnen mitten in der Nacht Sanalepsi einträufeln...»
SO ÄHNLICH ERKLANG DIE PHILOSOPHIE DER SCHWIEGERTOCHTER: «AN ALLEM IST DIE OMI SCHUILD!»
Diese liess sich nicht bremsen: «... und bevor sie zuschlagen, drehen sie sich auf ihren flachen Finken im Kreis und brüllen?uaaaaahhhh?.»
Die Omi wirbelte wie ein wildgewordener Suri mit gezücktem Brotmesser in der Küche herum. Mutters beste Kaffeekanne - die mit den Schwertchen - wurde vom symbolischen Schwert erfasst und zerschmetterte in tausend Stücke.
DANN WAR ENDGÜLTIG KRIEG.
Mutter holte stumm den Prospekt vom «Altersheim zur güldenen Ruh» hervor...
Geblieben sind aus jenen Tagen die Nächte mit dem Albtraum, wo sich 100000 Chinesen synchron - «uaaahhhh!» - im Kreise drehen und Säbel zücken.
UND EBEN AUS EINEM DIESER TRÄUME WACHE ICH SCHWEISSNASS AUF.
GELBE LICHTERKUGELN JAGEN DURCH MEIN KLEINES ADELBODNER SCHLAFZIMMER.
«Die Chinesen sind da!», brülle ich zu Innocent, der im Schlaf selig an seinem Apneuen-Rüssel hängt, Sauerstoff reinzieht und nun - unsanft geweckt - genervt durch die Nase näselt: «... dass iss sssöön. Dass füllt die Tourisssten-Tsssimmer...»
Ich jage aus dem Bett und gehe den gelben Lichtern nach. Sie kommen von draussen. Denn obwohl in meinem Garten bereits Tulpenzwiebeln stupfen und die Krokusse in lieblichen Violafarben kroküssen, raupt da ein Ungetüm von Pistenfahrzeug über die sattgrünen Weiden und sprüht gelbe Lichterkugeln sowie Tonnen von Kunstschnee um sich.
Die Adelbodner wissen, was sie dem Ski- und Osterhasen schuldig sind: harte Eier, harte Bretter. Und noch einmal alle Mann auf Piste!
Ich lege mich mit 200 Puls wieder in die Federn. Versuche mein inneres Beben zu beruhigen. Und schimpfe mal tüchtig diese schneesportverrückte Welt aus: «Weshalb können die das nicht alles lassen, wie es ist? Wenn der liebe Gott eine Klimawechsellaune hat, soll man doch nicht mit Schneekanonen dagegen schiessen.»
UND WARUM MUSS EIGENTLICH IM FRÜHLING NOCH IMMER JEDER AUF DIESE BRETTER, DIE DIE WELT BEDEUTEN - Blödsinn: die das Geld bedeuten!?
In einem späteren Traum bin ich dann der Chinese, der sich - «uahhhhh!» im Kreise dreht. In der rechten Hand ein Kurz-Ski, in der linken ein Snööbi-Brett werfe ich beide auf einen lodernden Scheiterhaufen und...»
«WESHALB KANNST DU NICHT DURCHSCHLAFEN, WIE ALLE ANDERN AUCH?!», holt mich Innocent vorwurfsvoll aus diesen lodernden Träumen und zieht die Vorhänge auf. «Da weckst du mich mitten in der Nacht, und alles nur, weil so ein Pistenfahrzeug vorbeirattert...»
AN ALLEM IST DIE OMI SCHULD!

Samstag - Ich äuge zum Himmel. Gottlob grau. Und gottlob Regen.
Viele Menschen können nicht verstehen, dass dieses so typische Adelbodner Regenwetter mich glücklich macht.
Psychoanalytisch gedeutet geht dieses Glück auf meine Kindertage zurück. Immer wenn es regnete, musste ich nicht auf die Ski. Und nicht an den Berg.
Zeigte sich der Himmel mittelmeerblau, rieb sich mein lieber Vater vorfreudig die Hände. «Hallo Hösi - Bergwetter! Wir machen eine kleine Felltour...»
Auch damals lag der Tourenschnee hoch über Adelboden. Und natürlich gabs noch keine dieser vielen Gondeln, die uns hinauftrugen.
WIR TRUGEN SELBER. UNS. UND DIE SKI!
Vater trug überdies noch einen Rucksack mit. In dem hatte es Studentenfutter (für mich) und einen Flachmann (für ihn).
Wenn er den Flachmann ansetzte, frors mich wie die Echse in der Arktis. Schon damals waren mir flache Männer ein Gräuel - ich habe stets üppigere Formen bevorzugt.
DAS IST NUN ALLES VORBEI.
Ich geniesse das typische Adelbodner Nieselwetter und die veränderten Launen der Natur. Ich freue mich an meinen Osterglocken neben der Kunstschneepiste.
O.k. Das Ganze ist klimakatastrophal daneben.
ABER SCHULD HAT EH DIE OMI.

Donnerstag, 22. März 2007